Das Oldenburger Klezmer-Projekt (seit 1997)

Klezmermusik und Jiddische Kinderlieder

Aus: Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher, hg. von Helge-Ulrike Hyams u.a.. BIS-Verlag Oldenburg 2001, S. 283-292.

Ein mit "Klezmer" gekennzeichnetes Konzert im Jahre 1999 vor einem bundesdeutschen Publikum bietet in der Regel ein aufeinander abgestimmtes Durcheinander unterschiedlicher Musikstücke: Bigband-artige "Zirkusmusik" (amerikanische "Bulgars" = bulgarisch), Tänze aus dem chassidischen Repertoire ("Freylekhs" = fröhlich) und synagogal anmutenden Lieder ohne Worte ("Nig[u]ns" = Melodie) bzw. Instrumentalrezitative ("Doinas" = rumänische [Hirten-]Liedform) werden durchsetzt von instrumental oder vokal dargebotenen Jiddischen Theater- Kabarett-, Volks-, Arbeiter- oder Ghetto- und Anti-Nazi-Liedern. Das verbindende Moment solch einer Klezmer-Veranstaltung ist die skrupellose Verquickung von undogmatischer Fröhlichkeit, osteuropäischen Straßnmusikklängen und tiefsinniger politischer Folklore. Der Terminus "Klezmer" stülpt sich dabei offensichtlich über mehrere musikalische Traditionsstränge, die auf postmoderne Weise in eine Art von "Wordlmusic"-Mix münden. Ideologischer Opinion-Leader ist dabei Giora Feidman, der in seinen Konzertauftritten, Filmen, CD’s und Workshops die überzeugung vertritt, alles, was aus dem (bzw. seinem) Herzen komme, sei "Klezmer", gegebenenfalls auch "Häns’chen klein" oder Franz Schuberts "Ave Maria".

 Die US-amerikanische Klezmer-Bewegung, deren exponierte Vertreter seit einigen Jahren nicht nur bundesdeutsche Bühnen unsicher machen sondern sich auch effektvoll in Krakaus Gassen oder vor Ausschwitz’ Toren filmen lassen, haben es mit der "Authentizität" nicht so schwer wie die Deutschen. In den USA gibt es eine relativ unhinterfragte Tradition des jüdischen Show-Business, der "Yiddish Theater"[nicht "Theatre"], der "Jewish Jazz- & Swing-Bands" und der "Jewish Folksongs". Niemand beargwöhnt, daß beispielsweise der in der Ukraine geborene und im Klezmermilieu aufgewachsene Dave Tarras nach seiner Migration (1921) in die USA erfolgreich in das Unterhaltungsgeschäft eingestiegen ist, in Jazzbands seine "Doinas" gespielt, den "Bulgar" popularisiert und jiddische Liedmelodien rundfunkgerecht zurechtgestutzt hat. Dave Tarras ist als einer der wenigen ins Klezmer-Revival der 70er Jahre hinein überlebenden Musiker, die noch in Osteuropa aufgewachsenen sind, eine Kultfigur geworden - nicht jedoch allein aufgrund seiner Biografie und seines exemplarischen Klarinettenstils, sondern auch deshalb, weil er "Klezmer" als eine Form produktiver Aneignung jüischer Lebensrealität mit musikalischen Mitteln praktiziert hat.

 Die US-amerikanische Art, mit Musik und in diesem Falle mit jüdischer Musiktradition umzugehen, hat es unter Deutschen und im hiesigen Kulturbetrieb schwer. Wie jede als "jüdisch" bezeichnete Musikpraxis gerät auch Klezmer hierzulande in das Dickicht der unabgeschlossenen Diskussion um die politisch korrekte Form von Vergangenheitsbewäältigung und die bange Walser-Frage, ob Deutsche bezüglich Schoa und Holocaust nicht längst einem Verdrängungsritual verfallen sind, das als auffälligste Symptome Rechtsradikalismus und antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen hervorbringt. Zudem geben sich deutsche Musiker und Musikwissenschaftler gerne authentisch, echt, tiefgängig und nachdenklich. Amerikaner wie der Klezmerfeldforscher Joel Rubin, die ebenfalls authentisch sein wollen, übersiedeln nach Berlin. So wird in deutschen Aufsätzen zu Klezmer diskutiert,ob Klezmer mit modernen Instrumenten gespielt werden soll, ob Version A einer jiddischen Melodie originaler als Version B oder gar C ist, ob Musiker X schon Polen oder Rumänien bereist und dabei alten Menschen beim Singen zugehört hat, ob die Aussprache des Jiddischen des Sängers Y korrekt ist, ob ein Nicht-Jude Klezmer spielen kann bzw. darf usw. usf.  

1999 ist die deutsche Klezmer-Gemeinde in zwei Lager zerfallen, die nicht mehr miteinander kommunizieren: einerseits das Lager, das sich noch zum Altmeister Giora Feidman bekennt, dessen Workshops die deutsche Szene letztendlich ihren Startimpuls zu verdanken hat, und andererseits das Lager, das der in Berlin lebende US-amerikanische Klarinettist Joel Rubin anführt, der die US-Revivalgruppe "Brave Old World" mitbegründet hatte, 1991/95 beim linken Platten-Label "trikont" (München) zwei hervorragend kommentierte CD’s mit historischen Klezmer-Einspielungen herausbrachte und inzwischen mitährlichen CD-Produktionen, die alle ihn selbst als Klarinettisten zeigen, beim Verlagskonzern SCHOTT-wergo als Hüter der wahren Klezmermusik vermarktet wird.

Klezmer-Bands der 20er Jahre in Polen und in den USA (mit Dave Tarras)

Die beiden aktuellen Klezmer-Lager der deutschen Szene entsprechen zwei komplementären Heransgehensweisen an traditionelle Musikkulturen, die heute im allgemeinen mit den Etiketten "Worldmusic" und "Folklore" versehen sind. In Schallplattengeschäften wie jpc, Saturn und WOM (World of Music) und Katalogen wird "Klezmer" zu etwa gleichen Teilen in den Kategorien "Worldmusic" ("Weltmusik") und "Folklore" ("Internationales") geführt. Als Worldmusic wird eine Musik bezeichnet, die programmatisch die Authentizität einer abgrenzbaren Musikkultur mißachtet und auf der Bühne des internationalen Musikbusiness stilistische Fusionen hervorbringt. Der bereits zitierte Dave Tarras kann als ein Vorläufer von "Worldmusic" bezeichnet werden, Giora Feidman ist ein Weltmusiker par excellence. Selbst eine religiös dogmatische Figur wie der Filmmusik-Komponist John Zorn ist mit seinen Projekten von "Radical Jewish Music" im Grunde dieser Gattung zuzuordnen. Als Folklore hingegen wird eine Einstellung gegenüber traditionellen Musikkulturen bezeichnet, die nach Authentizität fragt, die historische, geografische und kulturelle Distanz bewahrt und kulturelle Begegnungen ohne Verwischung von Unterschieden anstrebt. Das Berliner "Haus der Kulturen" als Inbegriff traditioneller Musikethnologie, die Bemühungen von Joel Rubin und die deutsche Tradition des Jiddischen Liedes im Sinne einer Politfolklore gehören hierher. 

Ohne zu übersehen, dass es auch in den USA diese beiden Lager gibt, dass auch das dortige Klezmer-Revival starke Impulse aus der Folklore-Bewegung bezogen hat, kann man doch die "Worldmusic"-Tendenz eher als US-amerikanisch, die "Folklore"-Tendenz eher als deutsch bezeichnen. Diese tendenzielleünglich von jüdischen Jugendlichen der (N+1)-ten Migrantengeneration ins Lebens gerufen, während in Deutschland die Mitglieder der Klezmer-Gemeinde weitgehend Nicht-Juden sind. Zum zweiten haben US-Amerikaner - allen voran die dortigen Juden - ein erheblich weniger gebrochenes Verhältnis zur Musikindustrie und zum Kommerz wie die Deutschen, denen musikstilistische Entwicklungen, deren Motive kommerzieller Art sind, grundsäzlich suspekt erscheinen und für die ein verhungernder Musiker noch eher als Ehrenmann betrachtet wird als ein wohlhabender.

Zum dritten knüpfen die beiden Klezmer-Szenen an recht unterschiedliche lokale Musiktraditionen an. Im tonangebenden New York hatten in den Nachkriegsjahren die Chassidims das jüdische Musikbusiness dominiert, in der BRD fand jüdische Musik erstmals in der "Waldeck"-Bewegung ein Forum, in der DDR in Konzertdarbietungen im Rahmen antifaschistischer Pädagogik. Die ersten im deutschen Westen gut vernehmbaren Känge jiddischer Musik nach dem Holocaust stimmte 1963 der Chansonnier Peter Rohland (Abbildung) an, der 1964 auch das Folklore-Festival auf Burg Waldeck mitbegründet hatte. Rohland brachte 1965 zwei Platten mit "Liedern der Ostjuden" auf den Markt, deren Verbreitung aber recht begrenzt blieb. Die von Rohland mitinitiierte Folklore-Bewegung entwickelte sich nach Rohlands Tod 1966 in eine andere Richtung: anti-faschistischer Kampf oder gar Vergangenheitsbewältigung hat die Studentenbewegung und haben die "neuen sozialen Bewegungen" der 70er Jahre zunächst entlang der Musik aktueller Befreiungsbewegungen und der Liedermachertheorien eines Walter Mossmann und Wolf Biermann betrieben. Die "Wiedergutmachung" hat die neue Linke der SPD-Regierung überlassen, von der sie mit Berufsverboten bedacht wurde. In der DDR trat das Ehepaar Rebling bereits 1949 mit jiddischen Liedern auf (inclusive Funkaufnahmen) und tourte international, in den 60ern auch in der Bundesrepublik. 1966 erschien eine Platte mit jiddischen und Brechtliedern zeitgleich mit Reblings Liedersammlung, die den antifaschistischen Kampf osteuropäischer Juden hervorhob. Diese Sammlung wurde neben den "Liedern aus dem Ghetto" von Elsbeth Janda und Max M. Sprecher (1962) zum wichtigsten Bezugspunkt der 10 Jahre nach Rohland und Waldeck zwischen 1977 und 1981 im Westen herausgekommenen Schallplatten der Gruppen Espe, Zupfgeigenhansel und des Duos Kai und Topsi Frankl. Alle drei Platten enthalten überwiegend Jiddische Arbeiter-, Widerstands- und Kampflieder und wurden Ende der 90er Jahre neu als CD aufgelegt. Die "Grine kusine", "Tsen brider", der "Arbetlose-marsch" und "Sog nischt kejnmol" wurden 1980 in der linken BRD-Szene bekannt, nachgesungen und umgedichtet.

 Welche Verbreitung fanden diese Lieder aus dem Umfeld der Politfolklore bei der "gemeinen Jugend", vor allem in der Schule? Wie verhielten sich diese jiddischen Lieder zu den israelischen Shalom-Liedern, die bundesdeutsche Lehrpläne und Schulbücher vorsahen? 1974 kam das Liederbuch "Student für Europa" auf den Markt, das inzwischen auf ein 12-bändiges, 2-Millionen Mal verkauftes Werk mit über 1000 Lieder angewachsen ist. Der "Student für Europa" will ein Seismograph der realen Singepraxis Jugendlicher sein und gilt bei Musiklehrer/innen als (staatlich nicht zugelassener) Geheimtip für Klassenfahrten, Eckstunden oder anspruchsvollen Unterricht. Band 1 (1974) enthält "Und als der Rebbe singt" und "Donna, Donna", letzteres in der englischen Version von Joan Baez. Nach Erscheinen der Zupfgeigenhansel-Platte wird dieser mit "aus Israel" etikettierte Song in "Dos Kelbl" umbenannt und als "jiddisch" bezeichnet. Die Aktivitäten von Espe, Zupfgeigenhansel und anderen Gruppen Mitte der 80er zeigen ihre Folgen: Band 7 (1986) reiht sicherlich nicht unbeabsichtigt den musikpädagogisch beliebten Friedenskanon "Shalom chaverim" (trad. aus Israel) neben den "Arbetlose-marsch" von Mordechaj Gebirtig. Das Partisanenlied "Schtil, die nacht is ojsgschternt" aus Vilna (1944) erscheint bereits 1982 in Band 4 und die "Tsen Brider" aus dem Jahre 1901 in Band 7, 1986. Alle diese Lieder waren durch die genannten Platten populär geworden. 

Das US-amerikanische Klezmer-Revival wurde mit der "neuen Identitässuche" (jüdisch-amerikanischer) Jugendlicher erklärt, die sich nicht jüdischer Religiosität bedient oder sich auf die Politik des Staates Israel bezieht. An dieser Stelle drängt sich nun doch ein Vergleich zur Rezeption jiddischer Lieder auf bundesdeutschem Boden auf. Auch die bundesdeutsche Rezeption setzte sich von der staatlich verodneten und als blind-ritualisiert kritisierten Vergangenheitsbewältigung durch das Singen von israelischen Schalom-Liedern unter Ausblendung der politischen Realität im Nahen Osten nach dem "Sechstagekrieg" ab. Sie entdeckte den antifaschistischen und "Klassencharakter" jiddischer Lieder. Letzteren hatte der sowjetische Volkskundler Moshe Beregovski in seiner Anthologie "Jewish Folk Music" (Moskau 1934) herausgearbeitet. Beregovski, auf den sich die heutige Klezmer-Bewegung, Abteilung "Folklore", als methodischen und politischen Kronzeugen beruft, hatte ca. 3000 jiddische Musikstücke auf Platte gesammelt und transkribieren lassen. Er wollte wissen, was "vom Volk" tatsächlich gesungen und musiziert wurde, und nicht, was Liederbücher, die von jüdischen Instituten "für das Volk" herausgegeben worden waren, enthielten.  

In diesem Sinne war die "Entdeckung" von jiddischen Arbeiter- und Widerstandsliedern für die Bundesrepublik Deutschland eine politische Tat der Linken, ein Protest gegen die staatlichen Versöhnungs-Rituale und eine Kritik an der Kritiklosigkeit gegenüber Israels Realpolitik. Schließlich sang man nach Kräften jiddisch und trug dabei das Palästinensertuch. Zugleich bereitete diese "Entdeckung" jedoch den Boden, auf dem das US-amerikanische Klezmer-Revival der 90er Jahre in Deutschland gedeihen konnte. Bedeutet die inzwischen aufgehende Saat eine Entpolitisierung der früheren Rezeption jiddischer Musikkultur in der BRD? 

"Worldmusic" und "Folklore" können, wie es derzeit in Deutschland zu sein scheint, als Gegensätze betrachtet werden, die aufgrund ihrer Verquickung in den Kampf um Markt und Prestige unversöhnlich erscheinen. Es ginge aber auch anders! Ein Blick in einige der in Oldenburg 1998 gezeigten Kinder-Liederbücher kann etwas vom friedlichen, wenn nicht sogar produktiven Neben- und Miteinander beider Herangehensweisen an traditionelle musikalische Kulturen zeigen. Und, ich möchte die These aufstellen, dass der Gegensatz von "Worldmusic" und "Folklore" von den meisten Klezmorim mehr oder minder bewußt produktiv gehandhabt worden ist. Klezmermusik, wie sie heute von "Folkloristen" praktiziert und gesammelt wird, ist selbst ein Amalgam aus althochdeutschen Traditionsbeständen (inclusive der jiddischen Sprache), osteuropäischer Volksmusik, synagogalen Traditionslinien und Liedern der internationalen Arbeiterbewegung. Dies Amalgam ist je nach konkreten Lebensumständen stets neu zusammengesetzt worden: im osteuropäischen Shtetl am Ende des 19. Jahrhunderts anders als im Ghetto von Warschau oder Vilna, in der Lower East Side New Yorks der 20er Jahre anders als an den Universitäten Bostons der 70er, im argentinischen Judenmilieu, dem Giora Feidman entstammt, anders als in Israel, in das Feidman im Alter von 20 übersiedelt ist.  

Unter den jiddischen Kinderliederbüchern, die die Oldenburger Ausstellung zeigte, befanden sich Sammlungen, die aufgrund von Entstehungszeit, musikalisch-pädagogischer Intention und Aufbau einigen deutsch-christlichen Büchern ähneln, mit denen ich noch groß geworden bin. Ich denke an "Sang und Klang fürs Kinderherz", das der Komponist Engelbert Humperdinck 1901 herausgegeben hat und das ich in einer Ausgabe besitze, die die Bezeichnung "325. bis 334. Tausend" trägt. Diese Sammlung der "schönsten Kinderlieder" für Klavier gesetzt von einem berühmten Komponisten entspricht dem "Lider-samelbuch far der jidishe shul un familie, zsgeschtelt fun S. Kisselgoff", hg. vom JUWAL-Verlag für jüdische Musik, Berlin 1911, das die Ausstellung in einer späteren Auflage zeigte (Objekt L-1). Ich denke auch an den "Zupfgeigenhansel", die 1908 erschienene (Lieder-)Bibel der Wandervogelbewegung, von der es auf der Ausstellung eine zionistisch-jiddische "Dissidenten-Version" zu sehen gab (Objekt E-11). Allerdings gibt es mit Jo’el Engels "50 kinder-lider" aus dem Sortiment "Jiddisch-russischer Gesänge mit Klavierbegleitung" bei JUWAL (Objekt L-3, siehe Abbildung) auch Unikate, die kein deutsch-christliches Pendant haben (können). Den Liedersammlungen, die in Nachfolge Herders oder "Des Knaben Wunderhorn" mehr oder weniger erfolgreich um die Reproduktion "originalen Volkstums" bemüht waren, entsprechen auf seiten der Oldenburger Exponate die "Ostjüdischen Volkslieder, herausgegeben von Alexander Eliasberg", der Lieder von Volksliedforschern aus St. Petersburg und New York (aus den Jahren 1898 bis 1912) mit einem kleinen Apparat von Anmerkungen zusammenstellt (Objekt E-12).

 Ich erwähne die deutsch-christlichen Parallelerscheinungen der jiddisch-jüdischen Exponate deshalb, weil vom Äußeren her die jüdischen Kinderliederbücher sich nur wenig von den deutsch-christlichen unterscheiden. "Sang und Klang fürs Kinderherz" ist ebenso ein Amalgam wie Kisselgoffs "Lider-samlbuch". In beiden werden Neukompositionen, Klassisch-romantische Kunstlieder und Chöre neben Kirchenlieder, Straßenreimlieder und mittelalterliche Melodiefragmente gestellt. Von "Authentizität" ist da keine Rede. Die Lieder müssen religiös-sittlich sauber, einigermaßen bekannt und nicht allzu kompliziert sein. Musikalischen Qualitätsproblemen hilft ein geschickter vierstimmiger Klaviersatz auf die Beine. - Im folgenden lasse ich die Kategorie der "Kunstlieder" bei Kisselgoff außer Betracht, in der offensichtlich beliebte "Klassiker" für Erwachsene ins Jiddische übersetzt aufgeführt sind (Beethovens "Freude schöner Götterfunke", Mendelsohns Männerchor "Wer hat dich du schöner Wald" für drei Frauenstimmen gesetzt usw.). 

Neben den äußeren Parallelen und dem nicht-authentischen Ansatz solcher Kinderliederbücher gibt es allerdings kaum weitere, inhaltliche Vergleichsmomente. Der deutsch-christliche und jiddisch-jüdische Kinder-"Liederschatz" ist mit vereinzelten Ausnahmen trennscharf disjunkt. Ein flüchtiges Durchhören oder -spielen der Lieder, die die genannten jiddischen Büchern enthalten, entführt jede Leser/Hörerin augenblicklich in eine vollkommen andere musikalische Welt als diejenige, die in christlich-deutschen Kinderzimmern herrscht. In der Tat weht sofort der Geist eines Klezmer-Konzerts. Tonschritte und Skalen, bei denen jeder deutsche Musikpädagoge in Erinnerung an die Mahnungen Carl Orffs mit "für Kinder vollkommen unsingbar!" reagieren müsste, werden nach Belieben aneinander gereiht. Rezitativische, mit Triolen, Quintolen und Fermaten nur ungenau wiedergegebene Melodien, burleske Verzierungen und vor allem eine fremde Modalität zeichnen diese Gesänge auch dort aus, wo die Texte einem stinknormalen Berliner Hinterhof entstammen könnten.

 Nicht unbekannt für die Kinderlieder-Forschung sind kryptische, philologisch kaum nachvollziehbare Kurzlieder, die Gedankensplitter nach einem unterbewussten Assoziationsgesetz aneinanderreihen. Beispielsweise No. 13 bei Jo’el Engel:

Diese Melodie kann für einen Normal-Deutschen glattweg als "unsingbar" bezeichnet werden. Werimmer die übermäßige Sekunde gis-f in Takt 2 geschafft hat, wird spätestens beim folgenden Schritt gis-e scheitern. Die Melodie setzt voraus, dass der Klezmer-Modus "freygish" (e-f-gis-a-h-c-d-e) als AusdrucksQualität vollständig verinnerlicht ist. Nach Moshe Beregovski stehen 25% aller osteuropäischen Lieder und Klezmerstücke in dieser "Tonart", deren Melodie in der Regel mit den beiden Akkorden E7 (als "Tonika") und d-Moll (als "Dominante") begleitet werden. Das Lied, das nach allem, was die Kinderliederforschung sagen würde, als Spiel-Reim-Straßen-Lied einzuschätzen ist, setzt also einen musikkulturellen Hintergrund voraus, der von demjenigen deutsch-christlicher Kinderzimmer qualitativ abweicht. 

Doch zur Freude des Musikethnologen erschöpft sich das Amalgam-Wesen jiddischer Kinderlieder nicht in derart osteuropäisch-musikalischen Intonationen. Nehmen wir das "Baklid", das einzige Lied der Jo’el Engel-Sammlung, das einen unmittelbaren deutschen Bruder hat: "Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen" kommt in "Sang und Klang fürs Kinderherz" in jener Version vor, die die Musikpädagogik als Paradebeispiel einer mittelalterlichen Melodie ansieht. Die deutsche Version besteht (mit Ausnahme eines oft angehängten Schlusstaktes) aus vier Tonstufen, die sich zu einer Pentatonik ergänzen lassen und frei um die "Rufterz" oszillieren. Die Aufzählung der "sieben Sachen", die für einen "guten Kuchen" vonnöten sind, gerät sachlich, rezitativisch und emotionslos, einem Abzählreim vergleichbar. Ganz anders die jiddische Melodie:

Das Kuchenbacken wird zu einem kleinen sozialen Drama. "Wer kann sich schon leisten, einen ‘guten Kuchen’ zu backen?" scheint diese Melodie ausrufen zu wollen. Die notwendigen Zutaten werden sequenzartige aufgetürmt und münden in den Ausruf "Safran!" Dieser Ruf findet ein klägliches Echo... Da wird klar gemacht (oder bei den kleinen Sänger/innen vorausgesetzt), was Safran bedeutet: ein Edelgewürz, das damals wie heute fast unerschwinglich ist. Die Melodie des Kinderliedes denkt mit. Und dies scheint eine Eigentümlichkeit vieler jiddischer Lieder zu sein, nicht zuletzt natürlich der explizit politischen, wie das dritte Beispiel zeigen möge.

Das Kinderlied "Zehn kleine Negerlein" wird heute als eines der schlimmsten Produkte deutscher Kolonialzeit betrachtet. Die Sonderausstellung "Der Afrikaner im deutschen Kinder- und Jugendbuch" im Rahmen der Oldenburger Kinderbuchmesse 1985 hat dies verdeutlicht. In diesem Lied sterben aus spielerisch-zynischer Perspektive neun von zehn kleinen Negerlein, bevor das letzte mit einem Negermädchen dann wieder 10 neue Negerlein produziert. Das Lied erscheint bis heute in Kinderliederbüchern und kartonierten Extra-Ausgaben "für das Kindergartenalter" (Abbildung). 

In Sussman Kisselgoffs "Lider-samelbuch" von 1911 findet sich das 1901 erstmals nachgewiesene Lied "Tsen Brider", dessen äußeren Form sich an die "Zehn kleinen Negerlein" anlehnt. Auch hier stirbt ein "Bruder" nach dem andern, weil er mit lajn, fracht, ribn, gebeks, schtrimpf, bir, hej, blaj und bejner gehandelt hat, alles offensichtlich wie bei den Negerlein des Reimes wegen.

An jede Strophe schließt sich der berühmt gewordene Refrain an:

Oj, Schmerl mit dem fidele, Tewje mitn bas,
schpil’sche mir a lidele ojftn mitn gas!

mit dem die Kapeyle aufgefordert wird, zur tragischen Geschichte aufzuspielen. Totentanz, Trotzgeste, V-Effekt? Die Tatsache, dass die "Tsen brider" in Wir-Form, die "Zehn kleinen Negerlein" aus der sicheren Distanz der Kolonialherrenkinder gesungen werden, verstärkt den durch den Refrain herbeigerufenen V-Effekt. Brechts "V" kommt von "Verfremdung", hier bedeutet "V" auch "Verzweiflung": Brider, geht nicht zur Tagesordnung über, wenn einer von uns nach dem andern stirbt! Die Moral spricht der letzte der verbliebenen Brider aus, wenn er sagt "schterbn tu ich jeden tog, wajl zu esn hob ich nit". Womit Ihr handelt, das ist alles egal - es sind auch nicht 9 oder 10 brider, sondern wir alle sind es. Die Chronik des Sterbens, die dies Lied auf die Spitze treibt, wurde im KZ Sachsenhausen konsequenterweise dahingehend gewendet, dass "gas" nicht nur als "Gasse", sondern auch als "Gas" gedeutet wurde:

Eyn bruder nor bin ikh geblibn,
Mit vem zol ikh veynen?
Di andere hot men derharget - tsi gedenkt ir zeyere nemen?
Yidl mitn fidl; Moyshe mitn bas,
Her mayn letst lidl,
men firt mikh oykh tsum gaz.

Auch wenn das "Zehn kleine Negerlein"-Schema, dessen Ursprung nicht ganz geklärt ist, in verschiedenen jiddischen Liedern vorkommt (z.B. "Hob ix mir a mantl" wo ein Mantel immer weiter reduziert wird, bis "a gornischtl" übrigbleibt, aus dem der Sänger dann "a lidele" macht) und auch wenn sich die entstehungskausalen Verbindungen zwischen den "Zehn kleinen Negerlein" und den "Tsen bridern" im Dunkeln Estlands und Polens verlaufen - eine Tatsache ist doch unverkennbar: das Motiv des Weg-Sterbens kommt auf zweierlei Art in zweierlei Kinderliederbüchern vor. Nicht nur am Anfang sondern auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts!

Warum tun die Deutschen sich so schwer mit ihrer Geschichte?

Fazit

 Klezmer und jiddische Kinderliederbücher, deutsche Politfolklore und US-amerikanische Studentenkultur ... "irgendwie" passt alles doch zusammen! Und zwar nicht aufgrund postmoderner Gleichgültigkeit, sondern aufgrund eines Merkmals produktiver Musikkulturen, die traditionell-bewahrende Züge - von uns mit "Folklore" etikettiert - mit einer un-dogmatischen Freude am Spiel - von uns mit "Worldmusic" etikettiert - verbinden. Es entsteht ein Amalgam, das aber nicht beliebig oder willkürlich, sondern in einer konkreten sozialen Situation entstanden ist. Deutliches Zeichen dafür ist die Tatsache, dass das Musik-Amalgam politisch sensibel und stilistisch hintergründig ist. Selbst in den moralisch-pädagogischen jiddischen Kinderliederbüchern der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lassen sich Züe dieser Art produktiver musikalischer Aneignung finden. Die heutige Klezmer-Bewegung hat dies Prinzip auf das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts übertragen. Vielleicht gelingt es ihr, in Deutschland eine produktive Aneignung von Geschichte zu fürdern, die unproduktive Formen ritualisierter "Vergangenheitsbewältigung" abzulösen vermag. Das wäre dann die politische Forsetzung der Rezeption jiddischer Musikkultur im Rahmen der "Entdeckung" jiddischer Arbeiter- und Widerstandslieder durch die bundesdeutsche Linke der 70er Jahre. Die Diskussion um "Worldmusic" und "Folklore" wäre aufgehoben, indem kreative, produktive Formen von musikalischer Aneignung deutscher Geschichte praktiziert würden.

Literatur

Anmerkungen

  1. "Freylekh" ist die amerikanische Schreibweise für "freilach" (ENGEL), "freylachs" (LILIENFELD), "frejlech" (NEBBISJ), "Frejlex" (GOLDIN).
  2. In "Straßen der Hoffnung - Giora Feidman in Israel" (1998) spielt Feidman auch das Deutschlandlied.
  3. Exemplarisch das Heft "Von Klezmorim und anderen" der Neuen Zeitschrift für Musik 3/1998.
  4. Diese Frage ist das Thema des Filmes "Lebenslinien - Portrait der Sängerin Andrea Paucur und der Band Massel Tov" (Bayer. Rundfunk 3, 1998) von Renate Stegmüller.
  5. Grodzik (Polen) 1925, "Jewish Daily Forward", Archiv des YIVO Institute for Jewish Research, New York (aus RUBIN 1991, S. 12). Dave Tarras-Ensemble, Ethnic Folk Arts Center, New York (aus RUBIN 1995(a), S. 2).
  6. Nach SLOBIN 1987.
  7. Heute als JALDATI 1985 greifbar.
  8. Die Sammlung basiert auf Erinnerung Max M. Sprechers. Geänderter Titel der Ausgabe 1970: "Jiddische Lieder". Siehe JANDA 1970.
  9. ESPE 1977: Jiddische Lieder (espe-Musik - Stockfisch Diepholz). ZUPFGEIGENHANSEL 1979: Jiddische Lieder (pläne-Verlag Dortmund). Kai und Topsi FRANKL 1981: Wacht Ojf! Jiddische Arbeiter- und Widerstandslieder (FolkFreak, Astrophon).
  10. In: Wolfgang M. Stroh: Leben Ja. Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit. Marohl-Verlag, Stuttgart 1984, S. 62-73.
  11. Band 1 (1974) hg. von "Student für Europa e.V.", Bad Soden, Taunus... Band 12 (1998) verlegt beim Bund-Verlag, Frankfurt/Main.
  12. Dichter jiddischer Lieder, am 4.6.1942 auf offener Straße von Wehrmachtssoldaten erschossen.
  13. RUBIN 1995(b), S. 2-4; LONDON 1996, S. 26-32; SAPOZNIK 1987, S. 15-17.
  14. 1982 gab Mark Slobin 579 übersetzte Seiten des 5-bändigen Gesamtwerks Beregovkis heraus (SLOBIN 1982), das noch teilweise unerschlossen ist (nach GOLDIN 1994, S. 380)..
  15. Querverbindungen zum antifaschisten Kampf in der DDR sind innerhalb der "revisionistischen" Fraktion der BRD-Linken allerdings nicht zu verkennen.
  16. Die Exponate werden im folgenden mit "Objekt ..." bezeichnet gemäß HYAMS 1998.
  17. Beregovski 1962. In: SLOBIN 1982, S. 295.
  18. 0,5 gr Safran kosten heute zwischen 8 und 12 DM.
  19. KÖNKLER-KEHR 1985 (im Ausstellungskatalog).
  20. Alternative Schlußversionen u.a. bei KUHN 1996.
  21. Ausgabe KUHN 1965, die heute im Verzeichnis lieferbarer Bücher als 67. Auflage (1996) beim Pestalozzi-Verlag Erlangen angeboten wird.
  22. Nach GOLDIN 1994 (dort Nr. 103 und Anmerkung Kritischer Apparat S. 340: Saul Ginsberg und Peysakh Marek: jüdische Volkslieder in Russland. St. Petersburg 1901, Nr. 130, S. 102.)
  23. Titelmelodie des Filmes "Yidl mit’n Fidl" 1936 von Joseph Green.
  24. MLOTEK 1988, S. 121.
  25. KÖNKLER-KEHR 1985, S. 174.
  26. GÖNZERODT/ASRIEL 1981, S. 18-19.
  27. Vgl. HEISKE 1964, 43-44.