Das Oldenburger Klezmer-Projekt (seit 1997)

Ent-ritualisierte Holocaustpädagogik

Was heißt "ent-ritualisiert"?

Unser Umgang mit dem Holocaust und allem rund um Juden und Judentum, einschließlich Israel und Palästina, ist in hohem Maße ritualisiert ist und muss unbedingt ent-ritualisiert werden. Vorgänge wie die vom Mai 2021, als aus Gaza Raketen auf Israel geflogen sind und Israel als Reaktion Bomben auf Gaza abgeworfen hat, sind inzwischen ein tötliches Ritual geworden. Aber auch die Antisemitismus-Debatte rund um die documenta 15 muss als ein Ritual dechiffriert werden. (Siehe dazu meinen Brief an die taz!) Der Weimarer Professor für Geschichte Jüdischer Musik Jasha Nemtsov definiert "ritualisiertes Denken" folgendermaßen: „Das ritualisierte Denken bedeutet Wiederholen von starren Formeln, die keinen Bezug zur Realität aufweisen“. Auch unsere Wahrnehmung (vor allem die der gewinn- und aufmerksamkeitsorientierten Medien) ist ritualisiert. Im Falle der documenta 15 wird von den Medien nicht mehr die Ausstellung selbst (die „Realität“) wahrgenommen, sondern nur noch die „starre Formel“ vom Documenta-Skandal variiert.
Jeder spürt im Innersten seines Herzens: so kann das nicht bis in alle Ewigkeit weiter gehen! Aber, wie kann eine „Ent-Ritualisierung“ aussehen?

Diese Formulierung habe ich 2022 in zwei Vorträgen gewählt. Sie war zwar primär auf den Nahostkonflikt bezogen, gilt aber auch für Deutschland und die aktuelle Antisemitismus-Debatte. Eine Kurzform dieser Vorträge sind auf Yotube zu finden. Der komplette Vortrag ist als pdf-Download hier.

Zur gegenwärtigen Situation der Holocaustpädagogik

Lesen Sie zur Einführung den Artikel "Zur gegenwärtigen Situation der Holocaustpädagogik" (kostenloser Download), der aus verschiedenen Vorträgen der Jahre 2002 bis 2005 exzerpiert ist und meines Erachtens 2023 aktueller denn je ist, denn die aktuelle bundesdeutsche Diskussion um Antisemitismus zeigt, dass das alte holocaustpädagogische Denken bei deutschen Juden, maßgebenden Politiker/innen und den Medien noch immer präsent ist.

Die wichtigsten Punkte des Artikels:

Zur Geschichte der deutschen Holcauspädagogik:

  1. Vergangenheitsbewältigung,
  2. Betroffenheitspädagogik,
  3. Erinnerungsarbeit,
  4. antifaschistische Erziehung.

Das Scheitern der bisherigen Konzepte ist am anhaltenden Antisemitismus (den ja die ja die deutschen Juden selbst beklagen) zu erkennen. Daher wird ein neues Konzept diskutiert, das folgenden Bestandteile aufweist::

  • Empathie statt Betroffenheit,
  • Emotionen in der Einfühlung,
  • Lernen und Handeln im “Schutz der Rolle”,
  • Produktive Auseinandersetzung mit Zeitzeugen, Spuren, Denkmälern usw.,
  • Praktizierte Demokratie und Toleranz im Lernprozess.

Der Beitrag des Musikunterrichts zur Holocaustpädagogik:

Der inhaltlicher Focus der Holocaustpädagogik verschiebt sich weg von Zahlen und Fakten, weg von Statistiken und „Horrorfilmen“ und Denkmalsbesuchen hin zum „wirklichen Leben“ und den zunächst auch alltäglichen Gefühlen der Menschen. Statt „die Juden“ den deutschen Jugendlichen in der Schule in Extremsituationen vorzuführen und sie dadurch jeglicher Konkretheit zu berauben, sollten Juden zuerst einmal im normalen Leben als „Menschen wie Du und Ich“ erscheinen. Als Menschen mit lebensnahen Gefühen, mit Wünschen, Hoffnungen, Problemen, Sorgen und Fehlern. Hier liegt die Chance für Musik. Und hier ist die Chance für jene Klezmermusik, die die vielfältigen und widersprüchlichen Gefühlen des jüdischen Lebens klingend zum Ausdruck bringt.
Die beste Methode der pädagogischen Vermittlung von Klezmermusik, die auch in der interkulturellen Musikerziehung nachgefragt ist, ist die „szenische Interpretation“ von Musik. Hier finden Empathie, Rolleneinfühlung, ein Schutz der Rolle, die produktive Auseinandersetzung mit Inhalten und eine notwendig tolerante Arbeitshaltung statt. Die spezifischen Möglichkeiten eines derartigen Musikunterrichts sind

  • Empathie erzeugen als Verständnis ohne oktroyierte Gefühle oder Betroffenheit,
  • Musik als Teil einer widersprüchlichen Lebensrealität erfahren,
  • Musik machen (als Erlebnis) und Musik reflektieren (zu Erfahrung) in einem einheitlichen, sinnlichen Prozess.

Bemerkung: diese "aktuelle Konzept" habe ich seit 2002 theoretisch und praktisch entwickelt. In Vorträgen (u.a. vor jüdischen Kollegen aus den USA und Israel) bin ich auf großen Widerstand gestoßen. Die Geschichte hat mir aber Recht gegeben. Denn heute (2023) wird in der deutschen Antisemitismus-Debatte zunehmend erkannt, dass das "jüdische Leben in Deutschland" Jugendlichen nahe gebracht werden soll. Mit anderen Worten: statt Ausschwitzbesuchen sollte eine deutsche Synagoge oder aber auch ein Konzert der jüdischen Community besucht werden!

Weitere einschlägige Varianten dieses Artikels finden Sie unter den Klezmer-Downloads (hier).

"Tatort Bergen Belsen am 26. April 2015" - ein Beispiel ritualisierter Holocaustpädagogik

Hier ein Artikel geschrieben anlässlich der Gedenkfeiern in Bergen Belsen am 12. April 2015.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Befreieung von Bergen Belsen unter dem Asopekte der "Ritualisierung" ist hier als pdf-Download zu finden.
Dazu als Dokumente das Programmheft der Veranstaltung: Teil 1 und Teil 2.