Ferruccio Busoni (1866-1924): Zu einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Insel-Verlag, Leipzig 1907/1916, S. 40-45
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daß in ihr [= Obertonreihe] die Abstufung der Oktave unendlich ist, und trachten wir, der Unendlichkeit ein weniges uns zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die Pforte… und daß auch Sechsteltöne einstmal reden werden, darauf können wir vertrauen. Wichtig ist die Frage, wie und worauf diese Töne zu erzeugen sind. [Zusatz in der Ausgabe 1916:] Es trifft sich glücklich, daß ich während der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher Weise löst. Thaddeus Cahill hat einen Apparat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom zu einer genau berechneten, unalterable Anzahl von Schwingungen zu verwandeln [= Telharmonium oder Dynamophon, Gewicht 200 t ]… Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte Erziehung des Ohres werden dieses ungewohnte Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst gefügig machen.
Anton Webern (1883-1945):Der Weg zur Neuen Musik. Universal-Edition Wien 1967. Es handelt sich um Vorträge aus dem Jahr 1932.
Der Ton ist die gesetzmäßige Natur in bezug auf den Sinn des Ohrs. Wir stehen vor einer immer fortschreitenden Besitzergreifung des durch die Natur Gegebenen! Die Reihe der Obertöne ist praktisch als eine unendliche zu bezeichnen. Immer feinere Differenzierungen sind denkbar - es ist nur die Frage, ob die heutige Zeit schon reif [für Vierteltonmusik etc.] ist. Aber der Weg ist völlig richtig, durch die Natur des Tones gegeben. ... Die Dissonanz ist nur eine weitere Staffel auf der Leiter, die sich da fortentwickelt. Wer einen wesentlichen Unterschied annimmt zwischen Konsonanz und Dissonanz, der hat Unrecht, denn in den Tönen, wie sie die Natur gegeben hat, ist der ganze Bereich der Tonmöglichkeiten enthalten. - Wenn man zu dieser Auffassung von Kunst kommt, dann kann es keinen Unterschied mehr geben zwischen Wissenschaft und inspiriertem Schaffen.
Arnold Schönberg (1874-1951): Harmonielehre. Universal-Edition Wien 1911.
Ich kann den Unterschied zwischen Klangfarbe und Klanghöhe, wie er gewöhnlich ausgedrückt wird, nicht unbedingt zugeben. Ich finde, der Ton macht sich bemerkbar durch die Klangfarbe, deren eine Dimension die Klanghöhe ist. Die Klangfarbe ist also das große Gebiet, ein Bezirk davon ist die Klanghöhe. Die Klanghöhe ist nichts anderes als Klangfarbe, gemessen in einer Richtung. Ist es nun möglich, aus Klangfarben, die sich in der Höhe nach unterscheiden, Gebilde entstehen zu lassen, die wir Melodien nennen, Folgen, deren Zusammenhang eine gedankenähnliche Wirkung hervorruft, dann muß es auch möglich sein, aus den Klangfarben der anderen Dimension, aus dem, was wir schlechtweg Klangfarbe nennen, solche Folgen herzustellen, deren Beziehung untereinander mit einer Art Logik wirkt, ganz äquivalent jener Logik, die uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt. Das scheint eine Zukunftsphantasie zu sein und ist es wahrscheinlich auch. Aber eine, von der ich fest glaube, daß sie die sinnlichen, geistigen und seelischen Genüsse, die die Kunst bietet, in unerhörter Weise zu steigern imstande ist. ... Klangfarbenmelodien! Welch feinen Sinne, die hier unterscheiden, welcher hochentwickelte Geist, der an so subtilen Dingen Vergnügen finden mag!
Alexander Nikolajewitsch Skrjabin (1871-1915): Prométhée ou le Poème du feu op. 60 (1909/10) für Klavier, Chor, Orchester und Farbklavier. Aufnahme (Kurzfassung in Dortmund) mit Farbprojektionen des Lichtdesigners Gérald Karlikow: https://www.youtube.com/watch?v=9CruEBhdxJE. Aus dem Programmheft: „Alexander Skrjabin war einer der ersten Komponisten, die versucht haben, eine Beziehung zwischen Tönen und Farben in ihren Werken herzustellen. Mit seiner letzten Sinfonie "Prometheus oder das Gedicht des Feuers" setzte er diese Idee in die Tat um, indem er bestimmte Tonebenen mit farbigem Licht paarte, und zwar nach dem Muster seiner eigenen synästhetischen Wahrnehmung. Sein Ziel war, während des Konzerts den ganzen Saal mit Hilfe eines sogenannten Farbenklaviers mit verschieden farbigem Licht zu fluten.“
Igor Strawinsky (1882-1971): Mein Leben. List, München 1958 [Übersetzung der französischen Ausgabe von 1936], S. 44-45.
Während ich den „Sacre“ komponierte, sah ich das Schauspiel vor mir als eine Folge ganz einfacher rhythmischer Bewegungen, die von blockartig aufgebauten Gruppen ausgeführt werden, so daß ein unmittelbarer Eindruck auf die Zuschauer entsteht. [Nachdem bei der Uraufführung das Publikum zu randalieren begann...:] Ich hielt mich im Kulissenraum neben Nijinski [= Ballettdirektor] auf. Er stand auf einem Stuhl und schrie so laut er konnte den Tänzern zu: „Sechzehn, Siebzehn, Achtzehn“ - das war die Art, wie man im Russischen Ballett den Takt kommandierte.
Stravinsky in Conversation with Robert Craft. Penguin-Books, Middlesex 1961, S. 123.
In exploring the possibilities of variable metres young composers have contributed but little. In fact, I have seen no advance on the „Sacre du printemps“, if I may mention that work, in all the half-century since it was written.
Luigi Russolo (1885-1947): L’arte dei rumori (1916). Hg. von Johannes Ullmaier, Schott, Mainz 2000.
Wir müssen diesen engen Kreis reiner Töne durchbrechen und den unerschöpflichen Reichtum der Geräusche-Töne erobern. Umso mehr, als unbestritten ist, dass jeder Ton einen Wust bekannter und abgenutzter Empfindungen in sich birgt, der beim Zuhörer - allen Versuchen innovativer Musiker zum Trotz - Langeweile vorprogrammiert. Beethoven und Wagner haben unser Gemüt und unsere Nerven jahrelang aufs Äußerste gereizt. Jetzt aber sind wir ihrer überdrüssig und erfreuen uns stärker an geschickt kombinierten Geräuschen von Straßenbahnen, Vergasermotoren, Wagen und kreischenden Menschenmengen als beispielsweise am wiederholten Hören der „Eroica“ oder der „Pastorale“.
Hier die 6 Geräuschfamilien des futuristischen Orchesters, die wir bald mechanisch realisieren werden:
1. Dröhnen, Donnern, Knallen, Prasseln, Aufprallen, Tosen
2. Pfeifen, Zischen, Schnauben
3. Flüstern, Murmeln, Brummen, Rauschen, Brodeln
4. Knistern, Knarren, Rascheln, Summen, Klirren, Reiben
5. Schlaggeräusche auf Metall, Holz, Leder, Stein, Terrakotta etc.
6. Tier- und Menschenstimmen: Rufen, Schreien, Stöhnen, Brüllen, Heulen, Lachen, Röcheln, Schluchzen.
Das Geräusch muß Rohstoff werden, der zum Kunstwerk umgeformt wird. Es muß daher seinen akzidentiellen Charakter verlieren, um ein ausreichend abstraktes Element zu werden, so wie jeder natürliche Rohstoff seine notwendige Erhöhung in abstrakten künstlerischen Element erreicht.
Arseni Michailowitsch Awraamow begann1918 eine Symphonie der Fabriksirenen Simfonija Gudkow zu komponieren, die er 1921 abschloss. Diese Symphonie führte er zum fünften Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 1922 in Baku und ein Jahr später in Moskau auf.
B. Krasin: Womit und wie mit der Arbeit auf musikalischem Gebiet begonnen werden soll (1920). Dokumentiert in: Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland. DTV, München 1969, S. 175.
Der Proletkult soll folgende Fragen bearbeiten: Erforschung (1) des musikalischen Schaffens aller Völker, (3) der Klangfarben und Geräusche, (4) der Vervollkommnung der musikalischen Reproduktion [Grammophon, Lautsprecher, (5) Erfindung neuer Musikinstrumente, (7) Projekt für die Veränderung des Klangbildes des städtischen Lebens, (12) Synthese von Musik mit anderen Künsten.
Boris Arvatow: Thesen zur bürgerlichen Kunst und proletarischen Produktionskunst. Dokumentiert in: Boris Arvatov. Kunst und Produktion. Hanser, München 1972, S. 14.
Deshalb ist die kämpferische, revolutionäre Aufgabe der proletarischen Kunst die Beherrschung aller Arten der hochentwickelten Technik mit ihren Werkzeugen, mit ihrer Arbeitsteilung, mit ihrer kollektivierenden Tendenz, mit ihrer Planmäßigkeit.
Eric Satie (1866-192): Musique d’Ameublement. In: Eric Satie. Schriften, hg. von Werner Bärtschi. Regenbogen-Verlag, Zürich 1980, S. 54-55.
Musique d’Ameublement. ist industrieller Natur. Wir möchten eine Musik einführen, die die nützlichen Bedürfnisse befriedigt. Die Kunst hat da nichts zu suchen. Die Musique d’Ameublement. erzeugt Schwingung; sie hat keinen anderen Zweck; sie erfüllt die Rolle wie das Licht, die Wärme & der Komfort in jeder Form. Keine Zusammenkunft, keine Versammlung, etc. ohne Musique d’Ameublement. Musique d’Ameublement. für Notare, Banken, etc... Keine Hochzeit ohne Musique d’Ameublement.. Wer nie Musique d’Ameublement. gehört hat, kennt das Glück nicht. Ihr Schlaf wird schlecht sein, wenn Sie nicht vor dem Einschlafen etwas Musique d’Ameublement. hören.
Georg Capellen (1869-1934): „Fortschrittlichen Harmonielehre“, Leipzig 1908, S. 185-186.
Nachdem alle exotischen Tonleitervarianten harmonisch und tonal untersucht und so der europäischen Musik zugänglich gemacht sind, kann ein neuer exotisch-europäische Mischstil oder (um mich phantastisch auszudrücken) eine „Weltmusik“ geboren werden, falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und fremdartige Nahrung in eignes Blut umzuwandeln vermögen, ein Prozeß, den jede fortschrittliche Kunst durchmachen muß und bereits oft durchgemacht hat.[...] Die neue exotische Ära ist bereits prophezeit worden von Saint-Saëns in folgender Äußerung: Die Musik ist augenblicklich an der Grenze ihrer jetzigen Entwicklungsphase angelangt, die Tonalität. welche die moderne Harmonie erzeugt hat, ringt mit dem Tode. [...] Die Tonarten des Orients, deren Mannigfaltigkeit eine ungeheure ist, werden ihren Einzug in die Kunst halten. Alles wird der erschöpften Melodie neue Elemente zuführen, sie wird in eine neue, nicht weniger ergiebige Ära treten, auch die Harmonie wird sich danach richten, und der kaum ausgebeutete Rhythmus wird sich entwickeln.“