(12.-13. Std.) Die Mikrotonalität in der experimentellen Kunstmusik des 20. und 21. Jahrhunderts
Zu diesen beiden Stunden gehören die Playlist Weltstimmung - Teil 9, das Arbeitsblatt Blatt 12, Blatt Erkundungen, PowerpointPräsentation 12-Teil1, und Teil 2, Berechnungen-Mikrotuning (Exceltabellen)
Podcast 12
Definition
(1) Systematische und nicht zufällige Verwendung von Intervallen in einer Komposition, die „sehr klein“ sind. Bezugspunkt ist dabei fast immer das nicht-mikrotonale Halbtonsystem des Abendlandes bzw. der globalen Musikindustrie. „Zufällig“ heißt dabei, dass die Intervalle des Halbtonsystems während des Spiels minimal so variiert werden, dass das Halbtonsystem immer noch als Norm erkennbar bleibt. Beispiele hierfür sind das „unsaubere“ Spielen im Jazz.
(2) „Systematisch“ heißt in der Regel, dass Musiker/innen und Komponist/innen nicht ein vorgefundenes Tonsystem übernehmen und in diesem System komponieren, sondern das Tonsystem selbst komponieren. Das heißt also, dass das Tonsystem Bestandteil der Komposition ist. Komponist/innen komponieren sowohl das Tonsystem als auch das, was sie damit machen.
(3) Mikrotonales Komponieren lässt sich auf unterschiedliche Weise kategorisieren:
(a) Nach den Instrumenten. Das heißt Komponist/innen
- trotzen vorhandenen Musikinstrumenten „Ungewöhnliches“ ab, z.B. Alois Hába 1920, Charles Ives 1923 bis zu Klaus Huber 1994, Rami Chahin oder Manfred Stahnke 2020,
- entwickeln selbst neuartige Musikinstrumente, z.B. Frederic Busoni (1907) oder Charles Ives (1923) mit dem Vierteltonklavier oder Harry Partch ab 1938 mit diversen Eigenkonstruktionen (siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Instruments_by_Harry_Partch),
- programmieren auf Computern Tonsysteme und Kompositionen, z.B. Karlheinz Stockhausen (1955) oder Wolfgang Martin Stroh (1991).
(b) Nach dem Tonvorrat oder dem Tonsystem. Komponist/innen
- setzen die Idee der gleichmäßigen Temperierung fort: 5-temperiert (wie die Amadinda-Musik), 7-temperiert (wie die Ranat ek- oder Mbria-Musik), 8-temperiert usw., speziell 24-temperiert („Vierteltönigkeit“), 36-temperiert („Sechsteltönigkeit“) usf. ... N-temperiert,
- verwenden entlegenere Obertöne (beginnend mit 11, 13 und 17 usw.), die Musik ist also nicht-temperiert sondern „rein“ im Sinne der Obertonmusik,
- erfinden andere Regeln (Algorithmen), in der Regel in enger Verbindung mit der Kompositionsmethode - oder nach nicht erkennbaren „chaotischen“ Gefühls-Regeln (wie eventuell Gamelan).
Die Unterscheidung von Tonmaterial und Tonsystem ist manchmal wichtig, aber nicht immer möglich. Bei der Maqam- oder Raga-Musik ist die Unterscheidung ebenso wichtig wie in der abendländischen Musik jenseits der Zwölftonmusik:
- ein Stück in einem bestimmten Maqam oder Raga wählt aus einem großen Tonvorrat (z.B. in Indien den Shruti) jeweils siebenTöne aus, die dann das Tonsystem bilden,
- in einer tonalen abendländischen Komposition wird ebenfalls aus den 12 temperierten Tönen eine Auswahl von sieben Tönen getroffen, wenn man von Modulationen absieht,
- im Grunde stellt nur die Zwölftonmusik (Schönberg und folgende) ein Tonsystem dar, das den chromatischen Tonvorrat voll nutzt - weil hier „alle zwölf Töne gleichberechtigt sind“,
- in zahlreichen avantgardistischen Computer- oder Elektronischen Kompositionen wird auch von der „Oktav-Spirale“ (= Oktaven sind rein), die bis zur Zwölftonmusik gilt, abgewichen.
Der direkte Weg zum 11. Oberton
In den Tonsystemen, die obertonrein sind, aber auch entferntere Obertöne mit ein beziehen, spielt der 11. Oberton eine entscheiddende Rolle: er ist gleichsam der erste Oberton, der aus der Reihe der reinen diatonischen Töne fällt, liegt beispielsweise vom Grundton D aus genau in der Mitte zwischen g und g# (553,1 Cent):
Nr. | Tonhöhe | temperiert | obertonrein | Cent-abweichung | "Bayreuther-Skala" |
8 | d" | 587,33 | 587,33 | 0,00 | d |
9 | e" | 659,26 | 660,75 | 3,91 | e |
10 | f#" | 739,99 | 734,16 | -13,69 | f# |
11 | g# | 830,61 | 807,58 | -48,68 | g# |
12 | a" | 880,00 | 880,99 | 1,96 | a |
13 | b" | 932,33 | 954,41 | 40,53 | |
14 | c³ | 1046,50 | 1027,83 | -31,17 | h |
15 | c#³ | 1108,73 | 1101,24 | -11,73 | c# |
16 | d³ | 1174,66 | 1174,66 | 0,00 | d |
Peter Bayreuther hat aus den Obertönen 8 bis 15 eine eigentümliche, quasi lydische Skala gebaut, die eine entsprechend "fremde" Harmonik zur Folge hat, wobei aber die Töne g# und h auf die temperierten Werte hin gebogen werden: d-f#-a-c (D7), e-g#-h-d (E7), f#-a-c#-e (f#min7) und g#-h-d (g#verm.). Das Ganze hört sich so an:
Ananda Eternal Joy
Hier die Noten zu diesem Stück.
Harry Partch (siehe weiter unten) hat das Spiel mit dem 11. Oberton weiter getrieben und letztendlich eine 43-stufige Skala generiert: siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Harry_Partch%27s_43-tone_scale.
Ungewöhnliches auf vorhandenen (akustischen) Instrumenten
Alois Hába: String Quartet No. 2 ("In quarter-tone system"), Op. 7 (1920): https://www.youtube.com/watch?v=-p_ZrbaGdso
Manfred Stahnke: Etude 13. Corona-Choral (2020). UA im Komponisten-Colloquium Oldenburg am 11.12.2020.
Hier werden entfernet (reine) Obertöne über unterschiedlichen Grundtönen verwendet. Das Grundprinzip der Komposition kann man der Partitur entnehmen (gut lesbarer Download) Der Komponist spielt selbst auf der Bratsche:
“Spektrale Kompositionen” von Rami Chahin (als Verbindung westlicher und arabischer Musik), siehe https://ramichahin.com/music-gallery/. Beispiel: Sudoku, for 81-Equal temperament scale (wobei hier die Oktav temperiert in 9 Teile geteilt wird, was dem Sudoku-Quadrat entspricht):
“Interkulturelle Kompositionen” von Klaus Huber. Beispiel “Lamentationes de fine vicesimi saeculi” 1994 für großes Sinfonie-Orchester unter Verwendung von Vierteltönen und einigen Weltmusik-Instrumenten: https://www.youtube.com/watch?v=vgAir_XSAJU
Neu gebaute (akustische) Instrumente
Vierteltonklaviere
Das Viertelton klavier von Ferrucio Busoni:
Charles Ives „Quatertone piece for two pianos“ (1923/24): 1. Satz https://www.youtube.com/watch?v=izFgt2tZ0Oc
Das Reich der Instrumente von Harry Partch
Harry Partch hat verschiedene Tonsysteme aus entfernt liegenden Obertönen abgeleitet. Am bekanntesten ist das 43-stufige System, das die "reine" Obertonstimmung (bestehend aus den Obertönen 4 bis 10 und 15) durch den 11. Oberton erweitert. Sodann entwickelte er mehrere akustische Instrumente, die dies oder ein noch komplexeres Tonsystem zu realisieren gestatteten:
Demo-Video zur Kithara:
Computermusik, Elektronische Musik
Karlheinz Stockhausen: Elektronische Studien
Die Elektronische "Studie II" von Karlheinz Stockhausen ist das vielleicht konsequenteste Stück serieller, durchorganisierter mikrotonaler Musik. Die Zahl 5 ist zuständig für die Partialtöne (eines temperierten Systems "25. Wurzel aus 5") der Tongemische, die sich aus 5 Sinusschwingungen zusammen setzen, der Motivik, der Klein- und Großform, der Längenverhältnisse der Tongemische und der Dynamik. Vom Tonvorrat gibt das folgende Video einen Eindruck:
Die Partitur der "Studie II" enthält alle Angaben, die zum Nachbau des elektronischen Stücks aus Sinustönen notwendig sind. In der oberen Zeile sieht man die 5 Tongemischarten, darunmter eine Linie mit Längenangaben und darunter anschaulich die Dynamik in Gestalt der Hüllkrven. Im vorliegenden Video habe ich die Tongemischarten eingefärbt. Das Video enthält die komplette Studie:
Etwas genauere Analyse auf der Seite https://www.musik-for.uni-oldenburg.de/elektronischemusik/html/05.html
Wolfgang Martin Stroh: MIDI-Planetarium
Das MIDI-Planetarium ist ein algorithmisches Computerprogramm, das aufgrund von Anfangsdaten deterministisch ein Tonsystem und eine Form generiert, auf dessen Basis klangfarblich improvisiert werden muss. Die Anfangsdaten werden aus der Konzertsituation abgeleitet. Hierbei wurden bisher immer das Horoskop (Stand der Gestirne entlang der Ekliptik zu Aufführungszeitpunkt) sowie die Planetentöne nach der Theorie von Hans Cousto verwendet. (Berechnungsbeispiel auf der Exceltabelle.)
Im folgenden Video sehen Sie einen Screenshot der inzwischen nicht mehr vertriebenen abgespeckten Version des MIDI-Planetariums als PlugIn des HoroskopProgramms "!Jupiter 55":
Beispiel: Violeta Dinescu und Wolfgang Martin Stroh: „Luftschiffe“ (1998), zur Einweihung des Hörsaalgebäudes der Uni Oldenburg. Vertont wurde der gelb markierte Ausschnitt des Horoskops, d.h. des Standes der Gestirne entlang der Ekliptik zum Zeitpunkt der Aufführung der "Luftschiffe".
Das Demo-Video mischt das reine Playback mit dem UA-Mitschnitt des 2. Teils der Komposition:
Weitere Information: Der komplette Mitschnitt der Uraufführung:
"Luftschiffe" Uraufführung Mitschnitt
eine Dokumentation, die im BIS-Verlag erschienen ist, befindet sich in der Cloud: https://cloud.uol.de/s/3tA7rD2zgbyAzyg - eine Kurzfassung davon im Internet: https://www.musik-for.uni-oldenburg.de/planet
Erläuterung zurfolgenden Tabelle:
Die Tabelle zeigt den kompletten Tonmvorrat im Falle der Verwendung der Planetentöne nach Hans Cousto als Grundtöne. Die 11 Grundtonfrequenze zeigt die erste Zeile. Die Spalten darunter sind die Obertonreihe über dieser Grundfrequenz. Das Programm ruft während der Vorführung (meist 30 oder 60 Minuten) alle diese Tonhöhen in einer von „Anfangsdaten“ abhängigen Reihenfolge ab - und zwar pro Gestirn in einem eigenen Rhythmus (der einer Tieferoktavierung des Grundtons entspricht). Die Tonhöhen werden nicht als Samples sondern als MIDI-Daten ausgegeben. Die Musiker/innen lenken diesen MIDI-Datenstrom (von ca. 35 000 Events pro Aufführung) improvisatorisch auf elektronische Klangerzeuger. - Im Falle der „Luftschiffe“ wurde ein Playback im Studio vorproduziert, zu der Violeta Dinescu dann vier Instrumentalstimmen komponiert hat. Statt Takten enthielt die Partitur Unterteilungsstriche im Sekundenabstand, die Notation war entsprechend flexibel („grafische Notation“). - Im Falle des „Konzertanten MIDI-Planetariums (Mitschnitt vom 1.7.2011: https://youtu.be/w_1XBAr0Xzg) improvisiert ein Musiker am Computer, der zweite spielt live dazu, wobei seine Instrumente auf die jeweiligen Grundtöne abgestimmt sind. Er muss daher vorab das Horoskopbild und damit die zeitliche Anfolge der Grundtöne kennen.
Alle Töne der vorliegenden Tabelle sind hier als Midifile zu finden.