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Wolfgang Martin Stroh (am 14.2.1991 anlässlich einer Anti-Kriegs-Veranstaltung im Kammermusiksaal):

"heute" - Strahlentodtango im Golfkrieg

Selten ist das "neurotische Angstlosigkeit", wie sie Psychoanalytiker­Innen der Friedensbewegung (RICHTER, ENSEL) beschrieben haben, so bewußt und explizit inszeniert worden, wie zur Zeit im Golfkrieg von und durch die Medienberichterstattung. Am 20. Januar 1991 sah ich in der Wochen­schau des ZDF Bilder von der ersten Raketennacht über Bagdad. Die makabre Schönheit dieser Bilder sollte über das große menschliche Elend, das sie verbargen hinwegtäuschen. Sie sollte zudem uns in Europa den Eindruck eines sauberen Kriegs mit ästhetischen Aspekten vermitteln.

Ich dachte, daß wir es gegen die Intention der Medien immer wieder üben und lernen müssen, angesichts solcherart Ästhetik Furcht, Angst, Wut und politische Handlungskraft zu bekommen. Als Vorbild hierfür sah ich den  „Strahlentodtango“, der 1976 in Wyhl entstanden ist und bis heute ein bekanntes Anti-Atom-Lied ist. Dieser Tango ist, kurz gesagt, ein kri­tisch-gebrochenes "Bild" makabrer Schönheit. Ich entschloß mich, die­sen Tango neu zu bearbeiten und ihn dem Volk Bagdads zu widmen mit dem Satz: Muß ein Volk sterben, um von einem Diktator befreit zu werden?

Die musikalische Bearbeitung enthält mehrere Ebenen, die ich kurz er­wähnen möchte: Aufgrund der Programme, die wir in meinem Kurs "Computermusik und Musikprogrammierung" entwickelt haben, war es mir möglich, in dem Arrangement drei verschiedene Stimmungen („tunings“) zu verwenden. Ich hatte die Idee, eines der Grundübel des im Lied be­schriebenen menschlichen Unglücks dadurch darzustellen, daß ich das aggressive und zerstörerische Aufeinanderprallen der arabischen und west­lich-amerikanoiden Welt darstelle. Die arabische Welt ist charakteri­siert durch den Original-Tango, dem eine Stimmung zugeordnet ist, die um 912 n. Chr. in Bagdad vom Musiktheoretiker Ibn al-Munaggin in seinem Buch "Risala fi 1-musiqi" publiziert worden ist.

  Die westlich-amerikanoide Welt wird dargestellt durch Bläserakkorde, die den Tango begleiten und die in einer von mir realisierten „Mars­-Stimmung“ gehalten sind. Um diese letztgenannte Stimmung zu berechnen, gehe ich nach Hans Cousto so vor, daß ich die Umlaufsfrequenz des Mars solange oktaviere, bis ich in den hörbaren Bereich komme (hier: 144, 72 Hz nach 32 Oktavierungen). In der Esoterikszene gilt der so errechnete "Mars--Ton" als assoziiert mit Eigenschaften, die der Planet Mars in astrologischer Hinsicht hat. Joachim Ernst Berendt schreibt in "Ich höre, also bin ich" dazu: Wer einen Gedanken zur Mars-Meditation braucht, der könnte wählen: "Ich bin Tat." oder "Ich bin frei" - "Ich lache über alle, die mich zwingen wollen" - "Ich mache, was ich will" (S. 133).

Als dritte, quasi neutrale Ebene, ist gelegentlich das 12-tönig-tempe­rierte System verwendet. Hinweisen möchte ich beispielsweise auf die letzte Strophe, wo das Deutschländlied in Moll den Tango in eben dieser Stimmung begleitet.

  Die Form des Stücks ist so aufgebaut, daß sich die Tangostrophe (16 Takte) 9 Mal wiederholt:          3 mal als Intro (zunächst nur die begleitenden Bläserakkorde in charakteristischer Zerklüftung und Raumverteilung), dann als Tangomelodie. Beim Übergang von Intro zu Melodie wird der Konflikt der beiden Tonsysteme ("Weltsysteme") hörbar. In den drei Strophen mit Text. wird der jeweils oberste Ton der Begleitakkorde als Melodie verwendet: chromatisch, 12-tönig-temperiert. Zwischen 2. und 3. Strophe ist ein Interlude, in dem der Tango und die Bläserakkorde direkt aufeinanderprallen. Die Coda bringt nochmals den originalen Tango, glei­chsam als "Requiem". Durch die unterschiedliche Instrumentierung der Tangostrophen soll die Form als Intro-Refrain(Tango)-Strophen-Interlude-­St.rophe-Refrain/Coda vielfältig und einheitlich zugleich wirken.

Der Text ist eine mit assoziativen Worten arbeitende Art Fern­sehberichterstattung und sollte auch so vorgetragen werden. Viele Worte werden assoziativ um- oder neugedeutet, zum Beispiel_ "Morgenstund hat Gold im Mund" wird zu "Morgenrot" ("leuchtest mir zum frühen Tod") "hat Gold im Mund" bis zu "nur der Tod hat Gold im Mund". Die Raketen als Gold im Bagdad'schen Morgenrot werden zum Dollar des Kriegsgeschäfts. "Aller Schrott und Korn" knüpft an die deutschen Heldentugend "von altem Schrot und Korn" an und verbindet sie mit dem Zerstörungsgedanken, der am Schluß in "Welt ist Schrott - ein Atommüllboot" mündet. Begriffe wie "Politchaot", die der Deutsche mit der Straße verbindet, werden auf Hussein und Bush als "Fernsehspot" angewendet. Und der "Bunkerspott" dürfte mit der heutigen Nachricht (14.2.1991) vom zerstörten Zivilbunker in Bagdad noch eine neue Bedeutungsvariante erhalten haben.

Abschließend möchte ich noch auf ein ästhetisches Moment des Arrange­ments hinweisen, das ich unter der Bezeichnung Brain and Body seit Jahren praktisch und theoretisch untersuche: die Konfrontation von Com­putertechnik und improvisierter Körpermusik. Im vorliegenden Arrangement sollen die Ebene des Computers, der die Tonsysteme errechnet und das Playback auf Synthesizern realisiert hat, konfrontiert werden mit der live gespielten, leicht improvisierten Tangomelodie. Der Sprecher steht gleichsam dazwischen, einerseits ist er noch Mensch, andererseits funktioniert er als Anhängsel des zensierenden Militärapparats. Indem dieser Sprecher medien-regelwidrig zur (Tango-)Geige greift, durchbricht er seine Rolle, die darin besteht, lediglich das im Penta­gon errechnete Stück Nachricht ins Medienbewußtsein der Weltgemeinschaft zu verpflanzen.

Die Ästhetik Brain and Body ist von mir zwar als allgemeine Aus­einandersetzung mit „unserer Zeit“ entwickelt. worden, sie spiegelt aber, bezogen auf den Golfkrieg, das Verhältnis des computergesteuerten „saubren“ Krieges der Medien zur menschenverachtenden, leidgeprägten Lebensrealität des Volkes wider. Sie enthält, so meine Hoffnung, heute eine kritisch-aufklärerische Dimension.

„Heute“ ist der Titel des Stücks, weil das Stück im Ton einer Fern­sehberichterstattung gehalten ist. Es sei darauf hingewiesen, daß der „Strahlentodtango“ mit den Worten "Heute hab' ich dem Strahlentod ins Auge geseh'n" beginnt.