Das "rhythmische Urwissen" und die Archetypen
Reinhard Flatischler im Gespräch mit Wolfgang Martin Stroh
Rhythmisch orientierte Praxismodelle der Musiktherapie verwenden meist entweder einfache schamanische Monotonie (z.B. STROBEL 1992, 103-105) oder aber freie Trommelimprovisationen (z.B. MEYBERG, 48-65). Elaboriertere Rhythmen, wie sie beispielsweise in afrikanischen, koreanischen, indischen oder brasilianischen Zeremonien, Konzerten oder Ritualien vorkommen, scheinen den Bewohnern eines rhythmischen Entwicklungslandes wie Deutschland sehr schwer zugänglich. In der aktiven Musiktherapie sind sie hierzulande faktisch unbekannt. An diesem Punkt setzt Reinhard Flatischlers Rhythmus-Konzept TA KE TI NA an, in dem komplexe, weltmusikalisch verankerte Modelle in Übungen vermittelt werden, die uns Mitteleuropäern zugänglich sind.
Von theoretischem Interesse für die Musiktherapie ist Flatischlers Begründung des Systems TA KE TI NA, in dessen Zentrum der Begriff des "Archetypus" steht.. Flatischlers These vom "rhythmischen Urwissen" und vom "Rhythmusarchetypus" ist erstaunlich ausgearbeitet und in dieser Hinsicht Wolfgang Strobels Theorie von Klangarchetypen (STROBEL 1988) vergleichbar. Am 27. August 1995 habe ich mit Reinhard Flatischler in Bremen ein ausführliches Gespräch durchgeführt, in dem ich zunächst Flatischlers rhythmische Archetypentheorie "abfragen" wollte. Ich legte Flatischler eine Synopse vor, in der ich zahlreiche Begriffe und Gedankengänge aus seinen Schriften entsprechenden Aussagen von C. G. Jung gegenübergestellt hatte (siehe unten Tabelle 1). Das nachfolgend in Auszügen wiedergegebene Gespräch setzt mit Äußerungen zur Archetypenthese an und gibt im weiteren Verlauf Einblicke in die Praxis von TA KE TI NA. Das Gesamtkonzept von TA KE TI NA, wie es in FLATISCHLER 1990 dargestellt ist, wird allerdings in diesem Gespräch nicht entfaltet.
1. Woher kommen die Rhythmusarchetypen?
S.: Im Zusammenhang mit den Ausführungen zum Rhythmusarchetypus schreiben Sie auch über Rhythmuserfahrungen des Kindes im Mutterleib. Entstehen Rhythmusarchetypen im Mutterleib?
F.: Archetypen gehen nach meiner Meinung nicht auf Erfahrungen im Mutterleib zurück. Sie gehen weiter zurück, sie sind Teil des "genetischen Codes". Sie sind verankert in dem Teil, die manche das Unbewußte nennen. Ich spreche ja vom "rhythmischen Urwissen". Dies Urwissen, in dem die Archetypen-Labels verankert sind, liegt wohl in der Erbmasse jedes Menschen. Es ist jedem Menschen zugänglich, wenn er den Augenblick erlebt, in dem alle seine Wesen eins werden. Letztendlich sagt dies gar nicht viel anderes als Zen oder Yoga.
Aus meiner biografischen Erfahrung weiß ich das: wenn Du zum Beispiel eine Krankheit hast, hast Du das Wissen, wie Du sie heilen kannst, in Dir. Das haben schon viele gesagt! Aber ich habe selbst erfahren, daß in dem Moment, wo der Kanal aufgeht und alles sozusagen eins wird, die darin verankerte "Message" - zum Beispiel bei mir persönlich über mein starkes Asthma - aus einer viel tieferen Schicht zum Vorschein kam, ohne daß mein Denken da überhaupt herangekommen wäre.
Möglich wurde dies bei mir vor allem durch meine Rhythmusarbeit, die diesen Kanal immer wieder öffnet. Das ist nicht etwas, was man einmal hat und es ist dann immer offen. Je öfter ich allerdings in diesen Zustand hineingehe, desto schneller geht dieses Tor auf.
Nochmals zurück zur Ausgangsfrage: das rhythmische Urwissen ist wie der Urgrund, der Mutterboden, und in diesem ist das Wissen der Rhythmusarchetypen verankert. Man könnte sagen, das rhythmische Urwissen kann im Mutterleib stimuliert werden, aber es kann auch umgekehrt sein: eine Frau, die ängstlich ist, die ihr Becken immer quetscht, sich wenig bewegt, tötet dies rhythmische Urwissen schon im Mutterleib. Das klingt ja immer so schön mit Herzschlag und Mutterleib! Aber es ist nicht so einfach. Im Mutterleib entsteht bereits Kommunikation, die sich auch absolut hemmend auf das rhythmische Urwissen auswirken kann. Ich meine aber, eine Frau mit entwickeltem rhythmischen Bewußtsein gibt das Urwissen im Mutterleib weiter, ohne etwas zu tun.
S.: In Anlehnung an C. G. Jung, der durch Kulturvergleich seine Archetypenlehre entwickelt und untermauert hat, wird oft als Archetypus das bezeichnet, was in vielen Kulturen übereinstimmt. Kann man dies beim Rhythmus sagen oder bezieht sich diese Argumentationsweise auf das, was Sie "rhythmisches Urwissen" nennen?
F.: Ich nenne ein Beispiel: Rhythmusarchetypen existieren auch dann, wenn sie in gewissen Kulturen nicht als Rhythmusfigur realisiert sind. Dies ist beispielsweise mit dem siebenschlägigen Rhythmus der Fall, den ich im MegaDrum-Projekt "Ketu" durchgängig verwendet habe. Als Leonard Eto und ich sich 1993 zu Vorproben mit den Musikern der Gamelangruppe Suar Agung trafen, wußten wir, daß die noch nie einen Siebener gespielt hatten. Sobald wir in der Stille von Sankaragung, dem Dorf in dem Suar Agung lebt, an den Instrumenten saßen, war sehr bald alles einfach und klar. Immer wieder spielte ich für sie die einzelnen Teile der Komposition auf den verschiedenen Instrumenten - ohne Erklärung, ohne mitzuzählen. Wir sahen uns an und lächelten. Versunken in der Tiefe des Hörens spielten die Musiker die Rhythmen bald so, als würden sie diese bereits ihr ganzes Leben spielen. Ihr offener Geist ermöglichte es ihnen, spielerisch aus den Quellen jenes Urwissens zu schöpfen.
Die Voraussetzung, daß da ein Zutritt zu diesem Urwissen war, ist ein offenes Herz, ein offener Geist und die Fähigkeit zur Unsicherheit. Die Fähigkeit zur Unsicherheit heißt, jederzeit bereit zu sein, ein festes Konzept fallen zu lassen und sich einem Größeren anzuvertrauen, wissend, daß, wenn man sich fallen läßt, einen etwas auffängt.
S.: Bleiben wir bei diesem Beispiel. Was wäre hier der Unterschied zu dem, wenn ich sagen würde: die Musiker von Bali sind sehr anpassungsfähig und lernen enorm schnell?
F.: Wenn Du jemanden aus seinem Urwissen spielen hörst, dann strahlt er aus jeder Zelle, er spielt absolut mühelos jenseits jeder Physik, er reicht ganz weit raus, er ist spürbar mit der Wurzel des Lebens verbunden. Und das ist, was einen fasziniert. Bei dem, der schnell lernt, bist Du fasziniert vielleicht davon, wie schnell er spielt und was da alles passiert. Der generelle Unterschied ist: Hört man jemanden, der schnell gelernt hat, so ist man mit ihm beschäftigt. Hört man jemanden, der aus seinem Urwissen heraus spielt, dann ist man mit sich selbst beschäftigt, da resoniert das Urwissen, man fängt an, sich mit sich selbst zu beschäftigen, man spürt sich. Und man spürt eine tiefe Verbindung zum Musiker. Beim schnell Lernenden denkt man: "Au, wie gut der das macht!" Das rhythmische Urwissen ist eine menschliche Basis, die, wenn sie entwickelt wird, das ganze Leben verändern kann.
Das System TA KE TI NA, wie es Flatischler auf den workshops lehrt, hat nicht das Ziel, daß die TeilnehmerInnen gewisse Rhythmen aus der "Weltliteratur" lernen und reproduzieren können. Es hat vielmehr das Ziel, Zugänge zum "rhythmischen Urwissen" zu öffnen. Im Gegensatz zu anderen therapeutischen oder pädagogischen Rhythmuskonzepten verwendet Flatischler dazu sehr komplexe Rhythmen und verlangt von den workshop-TeilnehmerInnen, mit Füssen, Händen und Stimme drei unterschiedliche rhythmische Impulse gleichzeitig zu realisieren. Dies ist nur möglich, wenn der "zählende Verstand" überlistet wird.
F.: In TA KE TI NA gehe ich physisch in mehrere Rhythmen. Und dann passiert es plötzlich, daß jemand rausfällt. Er durchläuft eine Chaosphase, ist gezwungen, sein Weltbild aufzugeben. Doch das Kollektiv im Rhythmuskreis trägt ihn. Und er fällt auf die nächst tiefere Stufe, die wieder trägt. Durch das Chaos hindurch fällt man hinein ins Urwissen.
2. Abgrenzung: Rhythmusfiguren, Rhythmusarchetypen, rhythmisches Urwissen
S.: Sie sprechen auch von (nicht archetypischen) Rhythmusfiguren. Sind diese nun eher eine Sache des Lernens, während es bei den Archetypen eher eine Frage der Erinnerung an das Urwissen ist.
F.: Ich habe versucht, Rhythmus auf der ganzen Welt nach seiner Wirkung hin zu untersuchen. Und da kam ich drauf, daß es weltweit sechs verschiedene Wirkungsstufen gibt, die vom Archetypus bis ins Gestalterische hineinreichen:
Pulsation ist sowohl ein Archetypus, als auch eine Urbewegung der Welt schlechthin. Existiert das Bild in mir, so kann ich es erkennen und ich kann mich dieser Pulsation hingeben. Dann bin ich auf einmal mit diesem Urbild der Pulsation verbunden. Durch die Pulsation entsteht eine Welle. Da gibt es den Zwischenraum zwischen dem einen Puls und dem anderen. Und da gibt es die kleineren Wellen dazwischen, Teilungspulsation.
Zyklus ist ein Urbild, das weltweit existiert. Ich habe zum Beispiel jahrelang Versuche gemacht mit Neun, Zwölf, Sieben, mit ungewöhnlichen Rhythmen in allen unterschiedlichen Kulturen. Und was mich interessiert hat, war nicht, ob diese Kulturen das kennen, sondern wie sie darauf reagieren. In der Neun muß eine andere Qualität sein als in der Vier, sonst wäre sie sinnlos, sonst wäre sie nur eine Zahl. Zum Beispiel hat Neun eine das Körpergefühl auflösende Tendenz, und das habe ich überall immer wieder gespiegelt bekommen. Zwölf hat eine Tendenz der tiefen Balance, der Introversion. Wenn Du in TA KE TI NA einen Vierer drin hast, führt er Dich nach außen. Die Drei führt Dich hingegen hinein.
Ich habe gewisse Zyklen in allen möglichen Kulturen immer wieder gespielt. Ich habe nichts dazu gesagt. Ich habe einfach 5 oder 6 Tage nur diesen einen Rhythmus gespielt und dann Feedback eingeholt: "Wohin geht Ihr?" Und es kamen in allen Kulturen identische Bilder, identische körperliche Reaktionen. Wer sagt ihnen das? Wer gibt ihnen den Code?
Es gibt aber dann den Moment, wo Du in Rhythmusfiguren gehst, dann löst Du Dich aus dem Archetypenbereich und gehst in den gestaltenden Bereich. Wenn ich will, daß Du meinen Rhythmus lernst, dann wirst Du nach einer, zwei oder drei Stunden irgendwann einmal fragen, warum soll ich gerade diesen Rhythmus lernen? Du wirst fragen, was will er damit, warum lehrt er mich das? Diese Fragen kommen beim Archetypus nie, das ist der Unterschied. Da kriegst Du von innen die Antwort: "thats me!", das ist ein Teil von mir.
S.: Wie steht der Begriff des rhythmischen Urwissens zu dem, was Sie eben entwickelt haben?
F.: Das Urwissen ist wie der Code, wonach eine Rose weiß, wie sie wachsen soll. Dieses rhythmische Urwissen ist nicht die Ebene "Zyklus, Periode, Pulsation", es ist vielmehr wie eine grundmenschliche Kommunikation. Jeder Mensch besitzt es. Und sobald der Mensch Zugang dazu bekommt, ist er verbunden mit allen Menschen der Welt. Auf dieser Ebene verwurzelt sind die Rhythmusarchetypen. Es ist nicht wichtig, alle Rhythmusarchetypen jetzt zu erfahren. In ein Urbild eintauchen kann man nur, wenn man Zutritt zu dieser Ebene hat, was zugleich jeder rhythmischen Übung einen Sinn gibt.
S.: Woher stammt eigentlich das Wort "Urwissen", das Sie in den letzten Jahren immer häufiger in Ihren Veröffentlichungen verwenden?
F.: Das habe ich bei meinen Studien gefunden und darüber schreibe ich jetzt gerade ein Buch.
3. Entstehung der These von den Rhythmusarchetypen
S.: Wie sind Sie auf die Archetypentheorie gekommen?
F.: Jemand, der aufwächst wie ich, muß aus mehreren Quellen schöpfen. Aus meiner unglaublich kranken Jugend, die gleich forderte, "Hey, you got to do something! Du mußt irgendetwas machen, um da raus zu kommen." Meine frühen Reisen durch viele Kulturen, in denen ich Unterschiedliches gesehen habe. Ich habe gemerkt, daß es immer wieder Übereinstimmungen gibt. Aber das waren noch nicht die Rhythmusarchetypen, das war nur der Weg dorthin. Und dann irgendwann ein Erlebnis in Trance in einer Zeremonie. Auf einmal geht die Tür auf, nur für einen kurzen Moment, man sieht dieses endlose Sein und die Stille, die dort herrscht. Und dann bist Du auf der Suche. Das ist ein irreversibles Erlebnis und es hat für Dein Leben Konsequenzen, es verändert Dein Leben.
Bei einem Aufenthalt 1981-82 in Korea erkrankte Flatischler an der Ruhr. Ein Schamane, Kim Sok Chul, ließ für Flatischler eine Zeremonie veranstalten, die dieser über sich ergehen ließ, weil er sich aufgrund seiner körperlichen Schwäche nicht mehr wehren konnte. Bei der Zeremonie wurde er bewußtlos. Über die Zeit nach dem Wiedererwachen schreibt er: "Allmählich wurde mir wieder bewußt, daß ich im entscheidenden Moment nicht daran glauben konnte, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte: an die Kraft des Rhythmus. Der Teil in mir, der ständig zweifelte, war offen spürbar geworden. Die Erlebnisse in der Zeremonie hatten ihn aufgelöst. Da entstand in mir das Wissen, daß Rhythmus tiefe Schichten meines Bewußtseins erreichen kann und dadurch ein Weg zur Bewußtseinserweiterung ist" (FLATISCHLER 1990, S. 15).
S.: Das spezielle Wort "Archetypus"?
F.: Meine ganze Terminologie hat mit keinem anderen Menschen etwas zu tun, C. G. Jung lernte ich erst später kennen. Archetypen sind doch älter als C. G. Jung! Da muß ich folgendes sagen: Meine Entwicklung ist ungefähr so, daß ich bis 40 in meinem ganzen Leben zwei Mal Fernsehen gesehen habe, Rock- Popgruppen kenne fast gar keine. Ich war so konzentriert auf diese Entwicklung, ich war 15 Jahre auf Reisen in diesen Ländern, ich war in einer völlig anderen Welt, ich kannte alle detailliertesten Sachen aus der Ethnik... Ich bin ganz anders aufgewachsen, als man normalerweise aufwächst.
S.: Man kann leicht genaue Übereinstimmungen zwischen Ihrem Theoriegebäude und der Terminologie und Theorie von C. G. Jung finden ( vgl. Tabelle 1). Beweist dies, daß es auch hier ein Urwissen gibt?
F.: Ja, im Prinzip kann es gar nicht anders sein. Sonst wäre es ja leeres Gerede, wären es Gedankenkonstrukte. Wenn man hineinschaut, mußt man notgedrungen auf das Gleiche kommen.
S.: Als die beiden musikalisch grundarchetypischen Bereiche gelten Klang und Rhythmus. Gibt es zwischen beide Beziehungen?
F.: Ja, das ist schon in der indischen Musiktradition so. Das "mittlere Tempo" ist bei den Indern der Herzschlag, es heißt, der Rhythmus ist die Ebene der in der Natur wohnenden Schwingung. Durch Hochoktavierung erhält man den Klang. Weil dieser auch auf Pulsation beruht, müssen dann auch dieselben Phänomene herrschen. 2:3 als Polyrhythmus ist die Quint usf.
S.: Das gilt allerdings nur für die Tonhöhe, also die Töne. Nicht für andere Klänge, Geräusche, z.B. die vielen Trommel- oder Gongklänge, die keine Tonhöhe haben.
F.: Ich spreche vom Klang als Ton. In Indien, wie in fast allen ethnischen Kulturen, hat man ja die zentrale Achse des Grundtons. In Indien ist SA der Grundton, eine tonale Basis, aus der es kein Entrinnen gibt, auf den man sich niederlassen muß, wenn man die indische Musik verstehen will. Und dieser Grundton ist das Gleiche, das absolut Entsprechende der Grundpulsation im Rhythmischen. Der Mensch, der sich von einer Grundpulsation schwer tragen läßt, der läßt sich auch von dem Grundton schwer tragen. Das kann bedeuten, daß viele Menschen unseres Kulturkreises deshalb nicht singen können, weil sie das Erleben von innerem Niedergelassensein nicht kennen. Das ist jetzt eine sehr drastische Behauptung, aber ich habe festgestellt, daß Menschen, die sich von der rhythmischen Kraft tragen lassen konnten, auf einmal in ihre Stimme kamen und Töne richtig intonieren konnten. Denn sich auf einem Ton niederzulassen, ist genauso ein Urwissen wie sich auf einer Pulsation niederzulassen. Sobald man auf einem Ton ruht, kann man von dort aus jeden Ton ansingen. Dies könnte revolutionär für die Stimmbildung sein! Dieser Zusammenhang zwischen Rhythmus und Gesang ist bisher weitgehend unbekannt. Mir ist er aber vertraut, weil ich im Laufe der dreijährigen TA KE TI NA-Ausbildung die Entwicklung von Menschen über lange Zeit intensiv miterleben kann und konnte.
Anmerkung: Der Klangarchetypus im Sinne einer (tonhöhenlosen) Form von Energie ist Flatischler also nicht so wichtig. Das Archetypische des Klanges wird, einer alten abendländischen und sowohl indischen als auch chinesischen Tradition folgend ausschließlich im harmonikalen Aufbau des Klanges von Tönen gesehen (genauer in STROH 1997). Inwiefern aber der "Urklang", das OM eines Joachim Ernst Berendt oder der Weltenklang der Mythologie, ein "Ton" in diesem Sinne oder eben ein der Tonhöhe nach unbestimmter Klang gewesen ist, müßte noch genauer untersucht werden. Es dürfte für die Musiktherapie von Bedeutung sein festzustellen, daß gerade die tranceinduzierende Musiktherapie mit einem Klangarchetypus arbeitet, der nicht notwendig "harmonikal", nach Zahlenverhältnissen geordnet ist. Selbst wenn die (gesunde) Seele, wie es Leibniz sagte, beim Musikmachen und -hören "zählt", so kann sie doch noch mehr als dies!
4. Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis von TA KE TI NA
S.: Sie haben viel Erfolge in der Praxis aufzuweisen. Warum haben Sie überhaupt das starke Bedürfnis, diese Praxis mit Theorie zu fundieren. Welches Verhältnis besteht zwischen Ihrer Theorie und Ihrer Praxis?
F.: Ganz einfach. In dem Moment, wo ich in der Praxis neugierig werde, fange ich an, Dinge ernsthaft zu hinterfragen, indem ich Versuche anstelle. Dann suche ich zum Beispiel Wissenschaftler, die Apparaturen haben, wie unser Team in Lüdenscheidt. Ich lege gleich viel Wert auf die pragmatische Forschung - d.h. ich führe Versuche 100 Mal durch in vielen kulturellen Rahmen und beobachte bestimmte Reaktionen -, wie auf die Laborforschung, wo die Leute an verschiedenen Apparaten hängen.
Ich wende mich etwas gegen die Spezialisierungen: Ich bin Trommellehrer und ich bin nur Konzertspieler. Die, die nur Konzerte spielen, kommen langsam auf Heroin, weil das bloße Konzertieren auf dem Weltmarkt zu heavy wird. Die, die nur unterrichten, vertrocknen allmählich. Die Mischung, die ich im Moment mache, die Kombination von workshop-Arbeit, Arbeit am Buch, Komponieren und Spielen - da befruchtet eines das andere. Das ist mein Interesse am Ganzen.
S.: Gab es bei Ihren Recherchen gelegentlich Momente, wo etwas Unerwartetes aufgetaucht ist, oder lief Theorie und Wissenschaft immer Ihren Praxiserfolgen hinterher?
F.: [Pause] Ich glaube, alle wesentlichen Erkenntnisse sehe ich zuerst intuitiv.
S.: Man sagt oft, die Wissenschaft legitimiert nur, was die Intuition der Praxis erbracht hat. Ja, die Wissenschaft hat nur die Funktion, das praktisch Erkannte in eine andere, akzeptierte "Sprache" zu übersetzen.
F.: Ja, ich bin vor allem interessiert an der Arbeit mit Menschen. Theorie ist im Prinzip Umsetzung von Intuition. In dem Moment, wo ich nicht mehr legitim etwas hinstellen kann, was ich noch nicht geprüft habe, muß ich anfangen zu forschen. Wenn ich irgendwann etwas Neues sehe, kann ich nicht gleich darüber ein Buch schreiben. Ich mache TA KE TI NA jetzt 25 Jahre. Ich habe mir viel Zeit gelassen mit dem Ganzen. Ich halte jede Form von Schnellebigkeit für ungesund. Die TA KE TI NA-Ausbildung dauert drei Jahre, und danach ist man ja erst am Anfang.
S.: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die nächsten 25 Jahre TA KE TI NA!
Zitierte Literatur:
Reinhard Flatischler: Die vergessene Macht des Rhythmus. TA KE TI NA - Der rhythmische Weg zur Bewußtheit. Synthesis-Verlag, Essen 1984. (Mit MC, Neuauflagen mit CD.)
Ders.: TA KE TI NA - Der Weg zum Rhythmus. Synthesis-Verlag, Essen 1990. (Mit MC oder CD.)
Ders.: Jahresprospekt "Welt Sprache Rhythmus 93" [94, 95, 96, usf.]. Galli-Agentur, Freiburg 1993 [1994, 1995,1996, usf.].
Wolfgang Meyberg: Trommelnderweise. Trommeln in Therapie und Selbsterfahrung. Großer Bär-Verlag/ Hemmoor 1989.
Carl G. Jung: Archetypen. dtv, München 51995. (= Aufsatzsammlung aus der Taschenbuchausgabe in 11 Bänden bei dtv.) Zittiert sind die Aufsätze "Über Archetypen des kollektiven Unbewußten" (1934) und "Der Begriff des kollektiven Unbewußten" (1936).
Wolfgang Strobel: Die klanggeleitete Trance. Eine analytisch orientierte Form nonverbaler Hypnotherapie. In: Hypnose und Kognition, Band 9, Heft 1/2, 1992.
Ders.: Klang - Trance - Heilung. Die archetypische Welt der Klänge in der Psychotherapie. In: Musiktherapeutische Umschau 9, 1988, S. 119-139.
Wolfgang Martin Stroh: Zur psychoanalytischen Theorie der Weltmusik. In: Beiträge zur Popularmusikforschung, Band 19/20, hg. von Helmut Rösing. CODA-Musikverlag, Karben 1997.
Ders.: Handbuch New Age Musik. Auf der Suche nach neuen musikalischen Erfahrungen. Con Brio-Verlag, Regensburg 1994.