Experiment 2
Das Tonhöhenunterscheidungsvermögen
des Menschen ist nach offizieller Lehre eine wichtige Basis für „reines" Singen und Intonieren. In einem ersten „abstrakten" Experiment wird überprüft, wo die physiologischen Grenzen liegen (JND = just noticable difference). In der Praxis scheint es, dass der musikalische Mensch es nur lernen muss, dies biologische „Vermögen" sinnvoll einzusetzen.
Die Frage ist allerdings, ob der musikalische Mensch nicht auch ganz anders hört und bewertet. Erstens ist nicht in allen Musikkulturen „reines" Singen/Spielen ein Ziel, im Gegenteil! Zweitens könnte es auch ganz andere, kulturell bedingte Strategien geben, „richtig intonierte Musik" hervorzubringen. Beispielsweise gelingt es uns Wessis keineswegs auf Anhieb, eine arabische Skala korrekt zu intonieren oder eine indonesische Gamelanstimmung in ihrer spezifischen Qualität zu hören. Auch wir Wessis wählen möglicherweise andere als die Tonhöhenunterscheidungsstrategie, wenn wir ungewöhnlich gestimmte Musik erkennen sollen. Hierzu dienen die beiden Experimente zu Gamelan und türkischer Musik.
1. Abstraktes JND-Experiment:
Ist der zweite Ton höher oder tiefer als der erste, oder sind beide gleich hoch? (H, T oder G eintragen.)
Gruppen ® |
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1. |
T |
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H |
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3. |
G |
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4. |
T |
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5. |
H |
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6. |
G |
- |
(Die kleinsten Intervalle sind 1/85 Halbton.)
2. Erkennen einer Gamelan-Stimmung:
Eine balinesische Gamelan- und die temperierte Stimmung (Hörbeispiel: „Beyond Where Eyes Can See" von Eberhard Schoner und die Gamelan-Orchester aus Saba und Pinda/Bali. CD Trance-Mission 1991)
Tonname |
Oboe in Hz (temperiert) |
Gamelan in Hz |
Unterschied zw. Oboe/Gamelan (in Cent) |
Intervallfolge Gamelan (in Cent) |
C |
523 |
517 |
-20 |
|
Des |
554 |
556 |
+6 |
126 statt 100 |
Es |
622 |
612 |
-28 |
166 statt 200 |
G |
784 |
789 |
+13 |
440 statt 400 |
As |
831 |
834 |
+7 |
96 statt 100 |
C |
1047 |
1034 |
-20 |
372 statt 400 |
Die Melodie wird in unterschiedlichen Klangfarben in Gamelan- oder temperierter Stimmung gespielt.
In der 2. Zeile „G" (= Gamelan) oder „T" (temperiert) eintragen! Hörbeispiel (experiment2_gamelan.mid)
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3. Erkennen der „Vierteltöne" in einer türkischen Melodie:
Das Stück („klassische türkische Musik: „Her Mevsim icimder gelir" für Kanun und Begleitorchester von der CD „Türk Sanat Müzigi" 2004) benutzt die Skala h-c -d-e-fis-g-a-h. Dabei ist c ein um einen Viertelton erhöhtes C. Die kleine Terz h-d ist damit in zwei gleiche Hälften (statt in Halb- plus Ganzton) unterteilt. In den Beispielen werden westliche (temperierte) Unterteilungen der Terz in Halbton plus Ganzton und türkische Unterteilungen in 2 mal 1 1/2-Ton-Schritte verwendet.
Schreibe „0" für die westliche und „1" für die türkische Fassung, sodass die Antworten „1-1-0", „1-0-0" usw. aussehen können. Es gibt 18 Beispiele, nach dem 8. Beispiel ist eine kurze Pause. Hörbeispiel (experiment2_hicaz.mid)
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Zur Auswertung
Es ist interessant, sich selbst zu beobachten und sich zu fragen, nach welcher Strategie man gehört hat.
Bei der Gamelanstimmung gibt es bestimmte Töne, „auf die es ankommt". Das merkt man schnell... Diese (analytische) Hörweise hört die fremde Stimmung, indem sie sie mit dem im „wohltemperierten Gehirn" gespeicherten Melodiemuster „vergleicht". – Diese Hörweise würden Balinesier/innen absurd finden. Für sie ist jede Gamelanstimmung (von denen es so viele wie es Dörfer mit eigenen Werkstätten gibt) ein bestimmter Sound und keine Intervallfolge.
Bei Wiederholung des Experiments kann man vielleicht mal versuchen, eine andere Hörweise zu entwickeln und damit die Fehlerquote – und den Musikgenuss – zu beeinflussen.
Bei der türkischen Stimmung wird man schon eher „intuitiv" vorgehen und nicht unbedingt ein „wohltemperiertes Melodiemuster" zum Bewerten heranziehen, sondern eher eine vage Hörerfahrung von westlicher und türkischer Musik nach dem Motto: sobald die Melodie „türkisch" klingt, liegt der Viertelton vor, sobald sie westlich klingt, ist sie temperiert.
Beide Hörstrategien haben wenig mit der JND zu tun. Insbesondere ist die Fähigkeit, „rein" intonieren, d.h. feinste Tonhöhenunterschiede erkennen und korrigieren zukönnen, keine Voraussetzung für das adäquate Hören indonesischer oder türkischer Musik.
Ergebnisse
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1. Mikrointervalle (1/85 Halbton) gegen Aussage „gleich" statt „höher" oder „tiefer"
Der besonders hervorragende Fehlerbereich liegt zwischen -4/85 und 6/85. Die Asymmetrie hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Differenz zum vorherigen Intervall in der Darbietung eine Rolle spielt (weniger Fehler bei großer Differenz). Die Ergebnisse sehen kaum anders aus, wenn sämtliche „Fehler" mit einbezogen werden. - Relativ deutlich ist, dass ab 8/85 die Fehlerquote unter eine signifikante Größe sinkt. Dies Intervall (circa = 1/10 Halbton) entspricht ungefähr 2,55 Hz. Der an Laien mit einer anderen Methode gewonnene Wert von Zwicker ist 3, 6 Hz.
2. Unterscheidung: temperierte und Gamelanstimmung
Je nach Instrumentalklang ist es mehr oder weniger schwierig, die jeweilige Stimmung richtig zu erkennen. Koto und Piano haben einen in der Tonhöhe klar erkennbaren, perkussiven Klang, Flöte, Harmonika und Synthi einen relativ einfach-statischen. „Ooh" ist ein undeutlicher Klang. Die Tubular Bells und Marimba haben keine sehr genau bestimmbare Tonhöhe, da sie einen dreidimensionalen Schwingungserzeuger haben. Die Kürze des Klanges scheint kein entscheidender Faktor zu sein, da Koto, Klavier und Marimba gleich lang klingen.
3. Gegenüberstellung einer temperierten und einer türkischen Stimmung
Die Auswertung nach „Patterns" kann darauf hindeuten, wie gehört wird. Der zweite Ton folgte relativ schnell auf den ersten, während der dritte ziemlich isoliert am Ende stand. Die Fehlerquote beim 2. Ton ist am größten, die beim letzten am geringsten:
Interpretation
Beim Hören von Intervallen oder Stimmungen geht man nach unterschiedlichen Strategien vor. Die JND spielt bei Musikstücken in nicht-temperierten Stimmungen eigentlich keine Rolle, da sie viel kleiner ist als die Unterschiede der Intervalle innerhalb der getesteten Stimmungen. Die „Hörfähigkeit" ist im abstrakten Laborexperiment (JND) erheblich größer als in konkreten Musikstücken in unbekannten Stimmungen. Umgekehrt ausgedrückt: der kulturelle Stimmungs-Vergleich benutzt zwar die Tonhöhenunterscheidungsfähigkeit, beruht aber im wesentlich auf anderen Faktoren, die man als „kulturelle Gewöhnung" oder „Schulung" bezeichnen könnte. Das Gamelanexperiment hat allerdings gezeigt, dass die „Erkennbarkeit" der Tonhöhe wichtig ist, und diese hängt primär von der Klangfarbe (harmonisches oder nicht-harmonisches Spektrum) und bedingt von der Tondauer ab.