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Eine politische Geschichte der Musik

von Peter Schleuning und Wolfgang Martin Stroh

Alla Turca - das Türkenbild der "Klassik"

1. Die Angst des Abendlandes vor dem Osmanischen Reich

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Das "Kalifenreich" im 8. Jahrhundert 

Ab dem 13. Jahrhundert übernehmen die Osmanen von Anatolien ausgehend das arabische Reich. 1453 wird Konstantinopel (und damit das Byzantinische Reich) erobert. 1492 werden die letzten Araber aus Spanien vertrieben. Suleiman der Große (1520-66) vergrößert das Osmanische Reich bis Ungarn, belagert 1529 Wien, zieht aber wegen Nachschubproblemen wieder ab. Istanbul, Hauptstadt des Osmanischen Reichs ist die größte Stadt Europas (1/2 Mio. Einwohner).

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Der (Verteidigungs-)Kampf der mitteleuropäischen Staaten gegen die Osmanen wurde als "Glaubenskrieg" geführt.

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1683 zwei-monatige Belagerung Wiens, die, nachdem diverse deutsche und polnische Truppen zu Hilfe gekommen waren, mit der Schlacht am Kahlenberg endet. Die Türken werden 1697 endgültig aus Ungarn vertrieben durch Prinz Eugen, der 1717 Belgrad erobert. Weitere Schlachten gemeinsam mit Russland oder Venedig ziehen sich wechselhaft hin, einige zurückeroberte Gebiete gehen wieder verloren.

Im 18. Jahrhundert wird die reale Türkenangst ersetzt durch Verarbeitungsprozesse, denen eine Mischung aus "exotischer Anziehung" und "neurotischer (weil nicht mehr ganz realer) Angst" eigen ist - sogenannte "Türkenmode":

Flugblattlied zu 1683:
Hertz- und Magen-Vomitiv zur Kühlung

Packe dich Bluthund, du Primo-Vezier
Nichts verfanget dein hundisches Pochen!
Laufe nach Hause, du Mahomets-Thier
An dem die Christen sich rühmlich gerochen!
Frage den Mahomet, deinen Propheten
Warumb Er lasse Sein Ebenbild tödten?

Schäme dich Wüterich, Christen-Tyrann,
Daß du bey Vierzigmal-Tausend verlohren;
Sage, was Starenbergs Helden-Faust kan,
Hat er dich, Bluthund, nicht tapfer geschohren?
Die Janitscharen und Spahi zusammen
Wurden vertilget durch Schwerdter und Flammen.

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"Der kranke Mann am Bosperos" gegen Ende des 19. Jahrhunderts und das Verhältnis Deutschland-Türkei im 20.Jahrhundert

Erster Weltkrieg: Türkei (verliert) an der Seite Deutschlands
(als Folge:) bis 1923 Kämpfe gegen die Zerschlagung der Türkei
1923 endgültiger Sieg Attatürks über die Griechen = Gründung eines weltlichen ("europäischen") Staates
1935/36 Paul Hindemiths Vorschläge für ein neues türkisches Musikleben" (MHS Ankara, Opernhäuser etc.)
1933-45 deutsche Flüchtlinge in die Türkei, unter anderem 100 Hochschullehrer, davon 12 an der MHS Ankara (durch Vermittlung Hindemiths)
Februar 1945: Kriegserklärung der Türkei an Deutschland
1952 Beitritt der Türkei zur Nato
1961 - 1973 Gastarbeiteranwerbung
1983 Irmgard Merkts "Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik" (Beginn der interkulturellen Musikerziehung in Deutschland)
2001 leben in Deutschland 2,1 Mio. Türken. 2002 reisen 2,2 Mio. Deutsche in die Türkei.

2. Die türkische Musik

Klassische Janitscharenkapelle

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Tonbeispiel "Genc Osman" gespielt von der Mehter Band of the Asker Müze (Istanbul)

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Wichtigste Motive des Tonbeispiels. Auf dem Midifile sind die "Vierteltöne" besser als auf der Audio-Aufnahme zu hören: das b ist erhöht, das Cis erniedrigt.

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Zurna und Davul sind noch heute in Deutschland obligatorisch bei kurdischen und einigen türkischen Hochzeiten. Sie waren die ersten Instrumente Osmanischer Militärmusik.

Instrumente der Janitscharenmusik:

Urbestand (seit 850) Zurna Oboe (Aulos)
Davul große Trommel
Standard dazu Born Naturtrompete
Nakkare Paar Kesselpauken
Zil Becken
Cagana Schellenbaum
gelegentlich dazu Flöten
Rahmentrommeln

Merkmal türkischer (Kunst-)Musik:

Den Link zu einer Zusammenstellung verschiedener Genres türkischer Musik finden Sie auf der Seite Musiklandkarte Türkei. Hier ist auch türkische Kunstmusik zu finden.
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Tonvorrat "Maqam", ungewöhnliche "Skalen"
Melodik ständige Motivumspielung, differenzierte Artikulation
Harmonik keine Akkorde, nur Oktavierung und Umspielung
Rhythmik Percussion ist einziger "Kontrapunkt", kompliziert
Instrumente nasaler Klang, Spaltklang
Improvisation in strengen Regeln, nur Melodieverzierung

3. Alla turca (= abendländische Musik mit Orient-Intonation)

Siehe auch den Text von Vladimir Ivanoff

Kenntnisstand der abendländischen Musiker/Komponisten bezüglich türkischer Musik

G. B. Donado (1688): Über die türkische Musik

"Tatsächlich leiden ihre allgemeinen und gewöhnlichen Musiken am Lärmenden, da die türkische Nation kriegerisch ist, und den Paschas die Verpflichtung auferlegt bleibt, an ihrem Hof und in ihren Diensten wenigstens 36 Instrumente zu halten, die zum größten Teil militärisch sind, wie Trommeln und Pauken, Pfeifen, Flöten; doch gesellen sie jenen noch einige Fistule, mehrere Sorten von kleinen Pfeifen, sehr zart, verschiedene Saiteninstrumente, unter denen welche mit Metallsaiten, und auch das nämliche Psalterium; unter diesen gibt es solche, denen auch unsere Arten von Musiken gelingen, und die werden mitunter auch von den anderen getrennt, um sie vereint die folgenden und andere Lieder singen zu lassen, mit einem oder mehreren Instrumenten, mit Sinfonien oder ohne, aber mit der alleinigen Begleitung."

Die Komponisten in Wien, Lissabon, Berlin und Stockholm kannten die osmanische Kunstmusik so gut wie nicht, zumindest waren sie von ihr nicht sonderlich beeindruckt. Was aber bekannt war und auch das Orientbild gestaltete, war die militärische Janitscharenmusik.

Musiktheorie: die typischen "Orientalismen" in der Musik der "Klassik"

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alla turca "Instrumentation":
  • Oktavparallelen,
  • Sfz und fp, cresc.,
  • Vorhalte (2 bis 4).

Mozart: Entführung aus dem Serail, Janitscharenchor

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alla turca: Melodik, Harmonik:
  • Einstimmigkeit,
  • Dur-Moll-Unsicherheit,
  • chromatische Alterierung,
  • übermäßige Intervalle,
  • Bordun.

Mozart: Violinkonzert 5, A-Dur, letzter Satz

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alla turca: Rhythmus, Form
  • Punktierungen
  • "türküs"-Floskel
  • 4 Takte maximale Einheit
  • hingezogene Schlussfloskeln

Johann Joseph Fux: Tanzpartita, 3. Satz "Janitschard"

Musikbeispiele (für den alla-tuca-Quiz)

Mozart: Janitscharenchor aus der "Entführung aus dem Serail" (1782)
Gluck: Ouverture zu "Le Recontre imprévue" oder "Die Pilger von Mekka" (1764)
Kraus: "Marcia dei Giannizzari" aus "Soliman II" (1789)
Süssmayr: "Sinfonia turchesa" (ca. 1798), 3. Satz "Minuetto/Trio"
Mozart: 5. Violinkonzert A-Dur, 3. Satz (Menuett mit Trio alla turca)
Süssmayr: "Sinfonia turchesa" (ca. 1798), 4. Satz (Finale)
Kraus: "Marcia del Sultano" aus "Soliman II" (1789)

Sulaiman II-Opern im 18. Jahrhundert:

4. Interpretation: Angstverarbeitung mit Musik

Angsttyp: Angstverarbeitung: Musik:
Realangst= das Angstobjekt existiert Dem Feind die "Waffen" entreißen. Höfe legen sich selbst Janitscharenkapellen zu und spielen "alla turca".
Den Feind mit den eigenen Waffen bekämpfen. In Wien tritt der Kaiser mit seiner Militärmusik gegen die türkische Musik an.
Neurotische Angst = das Angstobjekt existiert nicht, aber die Angstsymptome treten auf Das Angstobjekt vergrößert darstellen zum Zwecke der Katharsis Orientklischee 1: die türkische Musik wird martialischer dargestellt als sie ist; es wird nur die Janitscharenmusik rezipiert.
Die Gefahr als "eingebildet" darstellen und somit aufklärerisch wirken. Orientklischee 2: der türkische Herrscher (Sultan) ist gütig, weise und aufgeklärt, ja die Projektion eines idealen Fürsten.
Das Angstobjekt lächerlich machen und verspotten, also "verkleinern". Orientklischee 2: der türke als ein lächerlich, aufgeblasener Mensch, die Musik als "unter Niveau", primitiv und "unharmonisch"

Die musikalische "Türkenmode" des 18. Jahrhundert ist gezeichnet von dem "Triumph" der Vertreibung der Türken aus Österreich - zugleich aber ständigen "Kleinkriegen" um die Schauplätze Belgrad, Siebenbürgen, Ungarn etc. Die Türkengefahr ist noch latent vorhanden, jedoch auch durchaus "eingebildet". Insgesamt treten 5 Dimensionen der Angstverarbeitung durch Musik auf - und dies ist auch die sozialpsychologische Deutung der musikalischen Türkenmode im 18. Jahrhundert.

Diese zwiespältige Konstellation ist bis heute geblieben und im Verhältnis der USA gegenüber den Arabern wieder sehr konkret: einerseits ist man selbst überzeugt, das Gute zu repräsentieren und die andern mit der "Achse des Bösen" in Verbindung zu bringen; andererseits existiert seit dem 11. September eine "reale Gefahr", die allerdings so groß gezeichnet wird (Bio-Waffen des Irak, Antrax-Angriff auf USA usw.), dass sie auch wieder neurotische Züge trägt.

Man höre Mozarts "alla turca" aus dem 5. Violinkonzert als Programmmusik dieser zwiespältigen Situation!

Menuettthema das Gute wird dargestellt, ist zunächst arglos
Mollthema (Buchstabe K) das Böse gibt sich kurz als Gefahr zu erkennen
Geige: Antwort auf das Mollthema das Gute dominiert und nimmt die Gefahr noch leicht hin
Wiederholungen der Vorgang wiederholt sich mehrfach, es wird bedrohlicher, ernster, der Ton ist fast klagend - bis hin zum Entschluss, dass etwas getan werden muss
2. Thema (Buchstabe L) (a-moll-Dreiklang) der präventive Aufmarsch des Guten mit militärischen Mitteln
3. Thema (Buchstabe M) (chromatisch) das Böse leistet Widerstand und kommt aus allen Verstecken hervor, die Guten kommen nur mühsam voran
4. Thema (Buchstabe N) das Gute schöpft Mut und behält die Oberhand
Wiederholung 2.Thema beim Einmarsch in die Hauptstadt ist nochmals Widerstand zu brechen (Flughafen!)
5.Thema (Buchstabe P) wieder behält das Gute die Oberhand, beim chromatischen Abgang allerdings Unsicherheit, ob der "Sieg" nachhaltig und endgültig ist
alle weiteren Wiederholungen und Varianten Erinnerung (oder Albtraum?) an die vorläufige Überwältigung des Bösen durch die Guten