Einige "Eckdaten". Die fett gedruckten Musiktitel sind die "Merkstücke" des Seminars.
3000 v.Chr. bis 15. Jhd. n.Chr. „Ozan“ Bezeichnung für fahrende Sänger und Schamanen, Vorläufer von „Aşık“ (siehe unten Veysel); ähnlich „Dengbéj“, kurdische fahrende professionelle Sänger
ca. 640 singt Mohammeds Gefährte Bilal al-Habaschi den (ersten) Gebetsruf ("ezan", Ruf des Muezzin - hier aus Istabul, wo mehrere Muezzine um die Wette bzw. in Call-and-Resonse singen, Noten)
790-874 Al-Kindi; 870-950 Farabî; 980-1037 Ibn Sina: die „aufrichtigen Brüder“, arabische Musiktheoretiker von nachhaltiger Wirkung bis heute
12. Jhd. Seldschuken erobern Anatolien (von Byzanz), Hauptstadt Konya, sehr liberale Herrschaft, die viele Gelehrte anzieht: 1201-1273 Rumi Mevlana, Gründer des Sufi-Ordens der Mevlevi, stirbt in Konya, heute ist dort das Zentrum des Mevlana-Ordens („Tanzende Derwische“, hier eine von mir gemachte Aufnahme aus Konya, Kurzfassung einer 90-minütigen Zeremonie mit den wichtigsten Abschnitten)
14. Jhd. nach dem Zerfall des Seldschukenreichs vergrößern Stammesfürsten Osmanen ihren Herrschaftsbereich von Westanatolien aus: 1453 Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, definitives Ende des Byzantinischen ("oströmischen") Reichs
1480-1550 Pir Sultan Abdal: mystischer und aufrührerischer Dichter („Revolutionslieder“), Orden der Bektaşi, heute Idol der Aleviten. Alevitische "Hymne": Ötme Bülbül ötme, eine Interpretation von Zülfü Livaneli (Text, Noten)
1610-1675 Ali Ufki, polnischer Dolmetscher, Musiklehrer am osmanischen Hof; notiert erstmals die ansonsten nur mündlich überlieferte osmanische Musik in einer eigenen Notation
1683 Osmanische Heere belagern zwei Monate lang Wien, werden von einer deutsh-ponischen Koalition vertrieben. Das Trauma wirkt als "Türkenmode" nach. Janitscharenkapellen (Mehter) Vorbild für europäische Militärmusik. Z.B. Mozarts/Say's alla turca
** - 1693 Hafiz Post einer der ersten namhaften osmanischen Komponisten. Yürük Semai (Noten)
1673-1723 Demetrius Cantemir (Kantemiroğlu), moldawischer Prinz, notiert 350 Musikstücke bei seinen Aufenthalten am osmanischen Hof; wichtigste Quelle des 18. Jhds. Makam Rast Murassa (Noten)
1778-1846 Hamamîzade Ismail Dede[Efendi], schuf viele erhaltene Kompositionen und erfand sieben neue Makams. "Dede" = Opa, "Efendi" = Gebieter
1797-1869 Dellâzade Ismail Efendi (Reinhard: "bedeutendster Komponist im 19. Jhd."), komponiert „fasıls“ (Zyklen mit mehrere Sätzen), besonders bekannt A Benim Gözüm Nûru (Noten)
1828 Giuseppe Donizetti wird als Direktor der Musikschule des Sultans berufen, um nach Auflösung der Janitscharen die Musik am osmanischen Hof zu reformieren (westliche Notation, Harmonisierug von Liedern, Marschkompositionen)
1855-1926 Santuri Ethem Efendi führt die rumänische „longa“ ein. "Rumeli" (Musik des Balkans) und Çingene (Zigeunermusik). Vgl. Nihavent Longa (Noten)
1873-1916 Tamburi Cemil Bey (Reinhard: "der letzte große osmanische Komponist"), Ferah-Fezâ Saz Semai (mit Orchester, kammermusikalisch) und Nikriz Sirto ("Originalaufnahme") - Noten: Semai, Sirto
1917 Gründung des Istanbuler Konservatoriums (aus der Musikschule des Sultans hervorgegangen)
29. Oktober 1923 Ausrufung der Türkischen Republik, zunächst Einparteienstaat (CHP), tiefgreifende Reformen durch Atatürk: türkische Sprache, lateinische Schrift, westliche Kleidung und Kultur. "Konstruktion des Türkischen" ("ich bin glücklich ein Türke zu sein" sagt jede Schüler/in heute täglich zu Unterrichtsbeginn)
1875/76- 1924 Ziya Gökalp: Kulturtheoretiker, auf dessen Theorie Atatürk aufbaut, Abschaffung osmanischer Musik als „un-türkisch“, Unterscheidung Kultur (unveränderlich) und Zivilisation (veränderlich)
1925 Verbot der Mevlevi (Sufi), „westliche Musik“ als Pflichtfach an Schulen
1869-1962 Suphi Ezgi, bedeutender Theoretiker des 20. Jahrhunderts (1933/53 Standardwerk zur „Makam-Lehre“), Leiter des Istanbuler Konservatoriums
1878-1935 Rauf Yekta Bey, bedeutender Theoretiker des 20. Jahrhunderts, System der usuls, „Zukunft der türkischen Musik liegt in der Verbindung der osmanischen mit der westlichen“ (1922)
1935/36 Paul Hindemith: "Vorschläge für ein neues türkisches Musikleben"
1936 Bartóks Reise durch die Türkei begleitet von Ahmet Saygun, Gründung des Volksliedarchivs in Ankara. Sari Zeybek (Atatürk tanzt 1938 kurz vor seinem Tod), Havada Bulut Yok(eine "Nostalgie-Vorführung" im Ruhrgebiet, eine live-Session in der Türkei), Noten: Sari Zeybek, Havada Buluk Yok
1940 Volksbildungshäuser, Volksmusik wird im Chor gesungen, "Popularisierung" der Volksmusik
1891-1973 Aşık Veysel, bedeutendster [traditioneller] Volksliederdichter und -sänger des 20. Jhds., Alevit, sein Bağlama-/Saz-Spiel wird zum "Standard". Kara Toprak, Uzun inci bir yoldayım, Noten Kara Toprak
1906-1972 Ulvi Cemal Erkin, Kunstmusikkomponist (einer der „Türkischen Fünf“), Theorie der „Verwestlichung“ auf Basis türkischer Volksmusik. Köçekçe Suiti (1943)
1950 Erste Mehrparteien-Wahlen in der Türkei: Mevlevi bedingt zugelassen, osmanische Musik wird als eine Gattung türkischer Musik rehabilitiert (sanat müzik), Volksmusik in türkischen Schulbüchern (zuvor nur westliche Musik); Mevlana-Zeremonie
1952 NATO-Mitgliedschaft, Kalter Krieg, Gewerkschaftsverbot, Verfolgung aller Linken, auch des Dichters Nazem Hikmet
1961-1973 Anwerbeabkommen zwischen BRD und Türkei („Gastarbeiter“)
1964 TRT wird gegründet, TRT-Archiv (über 10 000 Notenblätter), Standardbesetzung mit gemischt türkisch-westlichen Instrumenten und Chor mit Dirigent
1912-1985 Ruhi Su, Erneuerer der Aşık-Tradition, geschmeidigerer Gesang, "Entschlackung" der durch das Radio entstandenen "bombastischen" TRT-Performances (s.u. 1964)
1968 Orhan Gencebay „Arabesk“-Sänger. Erster Arabesk-Titel Meyhaneci. Bekannte Arabesk-Sänger/in: Imbraim Tatlises und Bülent Ersoy
1969 Eröffnung des ersten Opernhauses in Istanbul, abgebrannt, Neueröffnung 1977
1970 Bezeichnung „klasik müzik“ setzt sich als Bezeichnung für eine neue Aufführungspraxis osmanischer Musik durch, Gegenstück zur „westlichen Klassik“
1973 Tahsin Incirci leitet Türkischen Arbeiterchor Westberlin. LP Lieder für den Frieden, Lieder aus der Fremde
1973 Ende der Gastarbeiteranwerbung, Phase des Familiennachzugs: Anfang der Diskussion um „interkulturellen Musikerziehung“ in der BRD (interkulturelles Projekt rüzgargülü); Saz/Bağlama beliebtestes Instrument in Deutschland. Seytan bunum neresinde, Version der Hardrockgruppe Pentagram (Noten)
1974 Erkin Koray begründet „Anadolu Rock“. Erste Titel Cemalin und Şaşkin ("Estarabim", Noten)
1980 Dritter Militärputsch, zahlreiche Flüchtlinge (Asylant/innen), ab 1984 Krieg gegen die Kurden, Verfolgung von Aleviten, viele Musiker/innen erhalten Asyl in Frankreich und Deutschland
1981 Zülfü Livaneli singt zusammen mit Mikis Theodorakis und wird ausgebürgert, Özgün müzik. Geçmişten Geleceğe Türküler (Lieder Zwischen Vorgestern und Übermorgen)
1983-1989 Projekt Muhabbet mit Muhlis Akarsu, Arif Sağ, Musa Eroğlu, Yavuz Top. Die Kanacken und Göç Yolari („Migrationswege“)
1991 Sezen Aksu begründet „pop müzik“ mit Hadi Bakalım („Also los“)
1993 Privater Rundfunk in der Türkei erlaubt, Beginn von TRT INT und kral TV (vergleichbar MTV)
1993 Brandanschlag in Sivas auf einen alevitischen Kulturkongress
1992/94 Erste CD’s von Tarkan erzielen in der Türkei Millionenauflagen, Ölürüm Sana
1995 Cartel (Zusammenschluss deutsch-türkischer HipHopper) treten in Istanbul auf, MC Cartel
1997 Aziza‘A Berliner Rapperin, Radio- Moderatorin. Erste CD Es wird Zeit (Video)
1999 Gründung der türkischen Musikschule ("Konservatorium") Oldenburg (Videobericht dazu)
2000 (13.5.00) Bin Yılın Türküsü in Köln, alevitische Großveranstaltung mit 1246 Bağlama-Spieler/innen, 674 Semah-Tänzer/innen, Sinfonieorchester usw. (Video mit Ötme Bülbül ötme (siehe oben!))
2003 (11.3.03) Recep Tayyip Erdoğan wird Ministerpräsident, AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) bestimmt die Politik, schrittweise Auflösung der strikten Trennung von Kirche und Staat, Verfolgung von "anti-türkischen" Journalisten und Künstler/innen, 2008-09 erfolglose Interventionen des Militäs und des Verfassungsgerichts (AKP-Verbot) gegen diese Art "Islamisierung" der Gesellschaft (Kartell islamischer Banken, Hotels, Restaurants, Firmen und Fabriken), EU-Beitrittsbestrebungen, 2011 "Vorbild-Rolle" für den arabischen Frühling, ausländische Investitionen durch Neoliberalismus/Privatisierung/Bauboom (sog. Wirtschaftsaufschwung), 2011 Empfehlung an die Deutschtürken ("Diaspora"), ihren Kindern zu allererst Türkisch und später Deutsch beizubringen, 25.2.2013 " In der EU gibt es an die fünf Millionen türkische oder türkischstämmige Menschen. Also wir sind de facto eigentlich schon in der Europäischen Union. In dem Sinne gibt es da auch keine Probleme. Aber jetzt sollte man das auch rechtlich lösen, damit wir noch besser vorankommen"
2004 Fathi Akin Film Gegen die Wand. 2008 UA der Oper "Gegen die Wand" (Bremen) von Ludger Vollmer
2005 nach 5 Jahren Streit zwischen SPD/Grünen (Regierung) und CDU-Bundsratsmehrheit wird ein "Zuwanderungsgesetz" (Tarnbegriff für "Einwanderungsgesetz") verabschiedet. Der Zensus wird so umgestellt, dass der "Migrationshintergrund" festgestellt werden kann. Danach gibt es in Deutschland 7 Mio. Ausländer (2012: 1,7 Mio. Türken) und 15 Mio. Personen mit Migrationshintergrund (2012: 2,9 Mio. Türkei; 35% der Kinder unter 5 Jahren). 2006 Bundesregierung: "die [bisherige] Integration ist gescheitert"; Beginn der aktuellen Integrationspolitik
2007 Muhabbet (Murat Ersen) Titel Deutschland im Auftrag der Bundesregierung
2010 (9.10.10) Marc Sinan Hasretim, multimediale Performance mit Dresdner Philharmonikern, türkischen Musikern und Feldaufnahmen entlang der Schwazmeerküste. Eine Istanbuler Schulklasse singt "rüzgargülü" (siehe oben 1973).
2012 Wiedererstarken von „Arabesk“, Ibrahim Tatlites durch Attentat verletzt, produziert neue CD
2012 (7.10.12) Taner Akyol Ali Baba , türkisch-deutsche Kinderoper in Berlin (Komische Oper)
18.4. 2013 Fazil Say steht wegen Beleidigung religiöser Gefühle in Istanbul vor Gericht; Hezarfen Concerto, Istanbul Symphonie (2012)