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  Interkulturelle Musikerziehung: Lateinamerika (2002)

Dieser Text ist Grundlage eines Aufsatzes in "Musik in der Schule" 2002.  Die Bilder des Textes sind  nicht wiedergegeben. Eine für den Schulgebrauch vereinfachte Version des vorliegenden Artikels findet sich in "Szenische Interpretation von Musik" der Reihe "EinFach Musik" des Schönigh-Verlages, Paderborn 2007, Seite 56-64. In veränderter Form findet sich der Aufsatz in "Kuba fürs Handgepäck".

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Was hat "Guantanamera" mit Taliban und El Kaida zu tun?

 Yo soy un hombre sincero - ich bin ein ehrlicher Mensch - versicherte José Martí, bevor er über die Revolution zu sprechen begann. Als ehrlicher Mensch nimmt er den Mund nicht voll, rezitiert keine großen Parolen, sondern schildert alltägliche Dinge: "Versos sencillos". Drei davon sind als "Guantanamera" um die Welt gereist. Der folgende Beitrag zum großen Thema "Innovation" ist gleichermaßen bescheiden. Aber er ist so ehrlich wie der musikpädagogische Alltag. Zunächst schildere eine mehrfache Irritation, die mir selbst widerfahren ist und aus der ich versuchte, didaktische Konsequenzen zu ziehen. Dabei ist etwas Unvorhergesehenes passiert. Es stellten sich mir Beziehungen zwischen der "Guantanamera" und aktuellen Tagesnachrichten über den Krieg der USA gegen den Terror her.

Musikunterricht, 9. Klasse. Heute ist mal wieder "Guantanamera" dran, ein schönes Lied, nicht zu simple, nicht zu schwierig, einfache Harmoniewechsel. Eine geeignete Möglichkeit, früher erlernte Latin-Percussions-Figuren spielerisch anzuwenden. Zudem ein "politisches Lied", ein Revolutionslied. José Martí, der Dichter des Textes, ist ein heute noch verehrter Freiheitskämpfer, der am 19. Mai 1895 im Kampf gegen die spanische Kolonialmacht starb. Die Musik stammt von einem Joseíto Fernandéz. Bekannt wurde das Lied durch Pete Seeger, der es seit Mitte der 60er Jahre sang. Heute soll "Guantanamera" das bekannteste lateinamerikanische Lied sein.

Abbildung 1: Der kubanische Nationalheld José Martí auf dem kubanischen Peso-Schein (in der Mitte das Martí-Monument) Bild fehlt hier, ist in "Musik in der Schule" 2/2002 zu finden.

Eigentlich soll das Lied nicht nur gesungen, sondern auch besprochen werden. Die meisten Liederbücher bringen nur den spanischen (Original-)Text, in den "Spielplänen" wird der Refrain spanisch und werden die Strophen deutsch wiedergegeben. In "Musik hören machen verstehen" steht eine freie (nicht singbare) deutsche Übersetzung. Die Orientierung im Text fällt nicht leicht - umso schwieriger gestaltet sich der Versuch, das "Politische" des Liedes ausfindig zu machen und didaktisch zuzubereiten. Die einschlägige Literatur schweigt diesbezüglich beharrlich.


Was heißt "Guajira Guantanamera"?

Guantánamo ist eine Kleinstadt im Osten Kubas, Guajira ist eine ländliche Lied-Tanzform, die in "Applaus 3: Von Salsa bis Samba" beschrieben wird. Die Guajira (Variante des Punto Guajiro) ist ein ländliches Lied, das von den Kanarischen Inseln stammt und durch die Text-Improvisationstechnik im Stile von "Décimas" gekennzeichnet ist. "Guajira Guantanamera" hieße demnach "die Guajira aus Guantánamo". Diese Auffassung vertreten auch neueste Fachlexika und der mutmaßliche Komponist der "Guantanamera" Joseíto Fernandéz.

"Guantanamera" ist aber nicht nur ein Adjektiv, sondern auch ein Substantiv. Dann bezeichnet es eine Frau aus Guantánamo. In diesem Fall kann "Guajira" soviel wie Bäuerin, die weibliche Form des "Guajiro" bedeuten. Carlos Fariñas vertritt diese Meinung, da "Guantanamera" nicht die strikten stilistischen Kriterien einer Guajira erfülle, sondern eine "Son-Montuno" sei. Wenn allerdings die bekannten Strophen der "Guantanamera" als Huldigung an eine Bäuerin aus Guantánamo oder Liebeslied interpretiert würden, dann wäre der "Guantanamera" und José Marrtí ein Bärendienst erwiesen.

Fazit: Singen wir sicherheitshalber den Refrain unübersetzt auf Spanisch! "Guantanamera, Guajira Guantanamera, Gunatanamera, Guajira Guantanamera". Begleiten wir diesen Text durchgehend mit dem Pattern der "Guajira", wie es in "Applaus 3: Von Salsa bis Samba" von Cornelia Villaseca Ribbeck vorgeschlagen wird (modifiziert in Abbildung 3 und original in Abbildung 6):

Abbildung 3: Basispattern der Guajira im 4/4

Gewisse harmonische Reibungen mit der Melodie werden bei der ostinaten Begleitung mit diesem Pattern bewußt hingenommen und nicht (wie in "Dreiklang Musik 7/8" S. 174 geschehen) ausharmonisiert. Auch ein "gesalzenes" Arrangement mit jazzigen Zwischenharmonien, wie es Christoph Hempel zum Zeichen seines Erfindungsreichtums in Musik und Bildung 1/2000 (S. 51-55) vorgestellt hat, entfällt.


 Warum ist "Guantanamera" revolutionär?

Was hat die Guajira aus Guantánamo, egal ob es nun ein Tanz oder eine Frau ist, mit der Revolution zu tun? Der Text der Strophen sollte eigentlich hierüber Aufschluss geben, doch auch nach interlinearer Übersetzung fällt es schwer, die Revolution in diesem Text zu entdecken:

Refrain

Guantanamera, Guajira Guantanamera. 2X

1

Yo soy un hombre sincero,

de donde crece la palma, (2X),

y antes de morirme quiero,

echar mis versos del alma.

2

Mi verso es de un verde claro

y de un carmin encendido, (2X)

mi verso es un ciervo herido

que busca en el monte amparo.

3

Con los pobres de la tierra

quierro yo mi suerte echar, (2X)

el arroyo de la sierra

me complace más que el mar.

 

1

Ich bin ein ehrlicher Mensch,

komme von da, wo Palmen wachsen,

und ehe mich der Tod zum Schweigen bringt

möchte ich aus ganzer Seele meine Verse darbieten.

2

Mein Vers ist von hellem Grün

und von einem leuchtenden Rot,

Mein Vers ist ein verwundeter Hirsch,

der im Gebirge Schutz sucht.

3

Mit den Armen der Erde

will ich mein Los teilen,

und der Bach aus den Bergen

gefällt mir mehr als das Meer.

Mit sehr viel Phantasie ließe sich zwar das eine oder andere Bild des Textes politisch deuten - der Hirsch als der Guerilla-Kämpfer - oder doch als Ausdruck einer volksnahen Moral - die Bescheidenheit des Baches gegenüber dem Überfluss des Meeres -, sehr befriedigend ist diese Herangehensweise nicht. Vor allem ist sie keine brauchbare Basis für ein Unterrichtsgespräch.

Auch ein Blick auf die Verbreitungsgeschichte des Liedes durch Pete Seeger stellt neue Fragen anstatt welche zu lösen: Auf der LP "We shall overcome", einem Mitschnitt des Seeger-Konzertes vom 8. Juni 1963, auf dem "Guantanamera" zum ersten Mal außerhalb Kubas erklungen sein soll, fällt auf, dass das in der Carnegie-Hall New Yorks versammelte Publikum mitsingt, das Lied also bereits bekannt gewesen sein muss. Zudem steht auf dem Cover der LP, dass die Musik von Hector Angúlo und Pete Seeger "adaptiert" worden sei. In einem Interview, das Hermann Herlinghaus im Februar 1976 mit Joseíto Fernandéz in Havanna geführt hat, sagt Fernandéz, Hector Angúlo habe das von ihm (Fernandéz) komponierte Lied mit in die USA genommen, als er nach dem (gescheiterten) Putschversuch am "26. Julio" (1953) fliehen mußte. In den USA habe er als Hausmeister einer Grundschule gearbeitet und das Lied dem kleinen "Peter" (Seeger) beigebracht.

Diese Geschichte ist, da Seeger 1953 bereits 24 Jahre alt war, ebenso phantastisch wie eine andere, die 1979 von Pablo Santana verbreitet wurde: nicht Fernandéz habe die Melodie komponiert, sondern Herminio García Wilson. Dieser spielte 1929 bei einer Geburtstagsfeier als ein Mädchen, das er anmachen wollte, zurückgiftete. Daraufhin entglitten dem talentierten Musiker spontan die improvisierte Melodie und Text der "Guantanamera". Gemeinsam ist allen Varianten der Legende, dass in den 30er und 40er Jahren Joseíto Fernandéz zur "Guantanamera" am Rundfunk CMQ jeden Tag aktuelle Texte (im Stile der spanischen Décima) improvisiert hat und dass hierbei die drei Strophen aus José Martís Zyklus "Versos sencillos", die Pete Seeger gesungen hat, keine Rolle spielten. Fernandéz berichtet hierüber selbst:

Abbildung 4: Joseíto Fernandéz - Tagesnachrichten als improvisierte "Décimas" im Radi o.  Bild fehlt hier, ist in "Musik in der Schule" 2/2002 zu finden.

"... 1932, als ich im Radio (CMQ: Havanna) arbeitete. Damals hatten die Orchester, die im Radio spielten, die Gewohnheit, ihr Programm mit einer Rumba zu beenden. Alejandro Rivieiro, ein Rechtsanwalt, sagte damals zu mir: Hör zu, wir wollen etwas Neues versuchen, wir beginnen mit einer klassischen Melodie und enden mit deiner, die überall so großen Erfolg hat. Für den Anfang wählten wir also die Rumba "La bella Cubana", zum Schluss die Guajira Guantanamera. Immer mit verschiedenen Texten... Meine Décimas enthalten nichts Erfundenes, Ausgedachtes. Darum sage ich auch immer, daß die Guajira Guantanamera von Anfang an ein Protestlied gewesen ist. Sie war eigentlich immer Ausdruck von etwas Schmerzlichem. Ich habe stets Mißstände, Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung, Armut, Bösartigkeit, den schlechten Charakter bekämpft. Ich bin mit offenen Augen durchs Leben gegangen...".

Ein jugendlicher Hörer dieser Sendung mit dem Titel "Crónica Roja" (Rote Chronik) erinnert sich im Jahr 2002:

Ich erinnere mich an meine Jugend in St. Clara und an das Radioprogramm crónica roja, das Joseíto Fernandéz moderierte, indem er die Melodie der Guajira guantanamera verwendete, die von Klavier, Bongos, Kuhglocke, Banjo und ein paar anderen Instrumenten begleitet wurde. Er erzählte so circa um 3 Uhr mittags von den schrecklichsten Ereignissen, Selbstmord und anderen leidenschaftlichen Tragödien, die Joseíto darbot, indem er Teile der Melodie stark ausdehnte. Seine Texte sind heute angesichts der neuen Versionen vergessen... leider erinnere ich mich auch an keine Texte mehr."

Es scheint also, dass das Politische der "Guantanamera" nicht so sehr im heute bekannten Text von José Martí, sondern vielmehr in der Tatsache liegt, dass "Guantanamera" eine Improvisationsgrundlage für aktuelle politische Radiomeldungen gewesen war. Die Suche nach einer Textinterpretation als Basis eines Unterrichtsgesprächs über dies Lied geht also in die Irre. Und dies bestätigt sich an der Fortsetzung der Legendenbildung. Wo auch immer Pete Seeger das Lied gehört hat, bei der "Premiere" in der Carnegie-Hall New York hat er es mit dem Martí-Text als "Solidaritätslied" gesungen - und so ist es auch verstanden worden. Der Text dürfte dabei kaum eine Rolle gespielt haben.

Nachdem ich den vorliegenden Text geschrieben habe, teilte mir María Argelia Vizcaíno noch zwei interessante Details mit:

Joseito Fernández "fell in love with a women from Guantánamo", pero al parecer esa mujer era del campo de ahí le llame "guajira guantanamera", o puede ser que como para el que reside en La Habana, la capital de Cuba, todo aquel que reside en el interior de la isla es considerado del campo, a lo que le llaman "guajiro", le haya dedicado la canción a esa mujer sin ser guajira; o porque la tonada "La Guantanamera" es del campo de Guantánamo, ya tenía el nombre de Guajira y él sólo la usó para dedicársela a la mujer de Guantánamo. Son teorías mías no confirmadas.
Las letras de la Guantanamera que Joseito interpretó en la década de 1930 por desgracia no fueron grabadas, porque eso era para un programa que se trasmitía en vivo. Diariamente se escenificaba por artistas profesionales, el suceso más destacado del día y al final, Joseíto cantaba haciendo un resumen de los hechos con La Guantanamera en forma de décima, que es como se compone la poesía de los campesinos cubanos. El mérito de Julián Orbón fue desglosar esta forma de décima en cuarteta, para acoplar los versos sencillos de José Martí, que es la forma como se conoció internacionalmente con Pete Seeger. No conozco si hay alguna letra guardada de aquellos años 30.

Freilich hat Joseíto Fernandéz die Gelegenheit nicht ungenutzt gelassen, die Bekanntheit der "Guantanamera" improvisierend auf seine eigenen Mühlen zu lenken. Er hat dabei ungewollt den qualitativen Abstand zwischen einer Décima-Improvisation und der feinsinnigen Lyrik José Martís ("yo soy un hombre sincero") kund getan, die offensichtlich nicht dem Décima-Muster von 10 Zeilen zu je 8 Silben (in der Aufteilung 4 + 4 + 2) gefolgt ist:

Ich kann mein Lied hier singen

Oder wo immer man es will,

Meinen Guantanamo-Song,

So rein wie José Martí.

Es gibt keine Tat von mir,

Die meinen Wert schmälern könnte.

Große Ehre und Mannhaftigkeit

Sind beides sehr große Tugenden

Von Joseíto Fernandéz

Dem König der Melodie.

 


Ist "Guantanamera" überhaupt ein Lied?

Im Liederbuch "Cantaré" stehen noch weitere Strophen aus Martís "Versos Sencillos":

"Ich stamme von überall/ und gehöre überall hin:/ Kunst bin ich unter den Künsten,/ Berg bin ich unter den Bergen". "In meiner stolzen Brust/ ist eine Pein, die mich tief verletzt:/ Ich bin Sohn eines Sklavenvolkes,/ der lebt, schweigt und stirbt". "Der Leopard hat eine Zuflucht/ in den trockenen, ockerfarbenen Bergen:/ Ich besitze mehr als der Leopard,/ ich nenne einen Freund mein eigen". "Es hat der Herr Präsident/ einen Garten mit einem Springbrunnen/ und einen Schatz aus Gold und Weizen,/ ich habe mehr, ich habe einen Freund". "Alles ist schön und beständig,/ alles ist Musik und Vernunft,/ und alles ist wie der Diamant,/ bevor er Licht wird, nur Kohle". "Mein Vers gefällt dem Tapferen:/ Mein Vers, kurz und aufrichtig,/ ist wie die Härte des Stahls,/ aus dem man schmiedet das Schwert".

Die Tatsache, dass nicht der Text und für unsere Ohren erst recht nicht Melodie und Rhythmuspattern das Politische an diesem Lied ausmachen, besagt zunächst, dass "Guantanamera" gar kein Lied im üblichen Sinne ist: kein festgefügtes kleines Kunstgebilde mit klar abgrenzbarer Identität, mit einem Komponisten und einem Textdichter und gegebenenfalls einem Interpreten. "Guantanamera" ist vielmehr ein kulturelles Ferment, ein musikalisches Modell, mit dem die Menschen Unterschiedliches anstellen können. Wenn man überhaupt von einer "Identität" sprechen kann, so ist dies die "Verpflichtung" der Guajira- und Décima-Tradition gegenüber, die mit diesem musikalischen Modell verknüpft ist. Das Guantanamera-Modell verpflichtet den Sänger traditionsgemäß, sich lebensnah und somit eben auch politisch zu äußern, wie es Joseíto Fernandéz beschreibt. Wer auch immer José Martís Lyrik als erster über das Modell gelegt haben mag, er hat dies aus politischem Respekt vor der "revolutionären" Tradition der ehemals spanischen Kolonie Kuba getan.

Spätestens mit der Adaption der "Guantanamera" durch Pete Seeger jedoch ist aus dem Modell ein Lied, aus der Improvisationspraxis ein Fall für die GEMA geworden. Nachdem Seeger Guantanamera-Platten produzierte und dafür Tantiemen kassiert hatte, bekam die Angabe auf der LP "Text: José Martí, Musik: nach Angúlo und Seeger" eine brisante Bedeutung. Joseíto Fernandéz sagte im bereits erwähnten Interview, dass "diese Angelegenheit" inzwischen geregelt worden sei. Nach Cristóbal Díaz Ayala haben die Erben von Fernandéz (der 1979 starb) erst am 30.9.1985 von der spanischen GEMA (Sociedad General de Autores de España) die Urheberrechte erhalten. Und in jüngster Zeit hat María Argelia Vizcaíno herausgefunden, dass die Melodie seit dem 19. Jahrhundert bekannt und von Fernandéz lediglich verwendet wurde, dass Julián Orbón den Martí-Text auf die bekannte Melodie setzte, der Gitarrist Leo Brower 1961 "Guantanamera" mit dem Martí-Text gesungen und Orbóns Schüler Hector Angúlo diese Textierung Pete Seeger übermittelt habe.

Abbildung 5: Cover des Konzertmitschnitts
vom Seeger-Konzert am 8.6.1963 in der Carnegie-Hall New York Bild fehlt hier, ist in "Musik in der Schule" 2/2002 zu finden. 


Didaktisches Zwischenergebnis

Fazit aus all’ diesen Irritationen: "Guantanamera" ist zunächst ein musikalisches Modell. Alle, die dies Modell improvisierend ausführen gehen traditionell eine "politische Verpflichtung" ein. Auch der von Pete Seeger übermittelte Text José Martís steht in dieser Tradition, obwohl er keine Décima ist. Ein Lied im herkömmlichen Sinne wird "Guantanamera" aber erst durch den Warencharakter der Platteneinspielungen und das damit verbundene Urheberrechtsphänomen.

Diese Sachlage hat didaktische Konsequenzen:

Eine bloße Einstudierung von "Guantanamera" als Lied verkennt den politischen Wesenskern dieses musikalischen Modells. Sie ist natürlich nicht "verboten" und wird mit Sicherheit von den SchülerInnen akzeptiert, ist jedoch pädagogisch unergiebig und im Grunde der "Guantanamera" nicht angemessen.

Eine Unterrichtsgespräch, das die musikalische Reproduktion von "Guantanamera" als Lied als "Gesprächsanlass" im Sinne des Stufenplans der Interkulturellen Musikerziehung nach Irmgard Merkt nimmt, das beispielsweise sich an einer Interpretation des Textes von José Martí abarbeitet oder die Entstehungsgeschichte interpretiert, verbietet sich von der Sache und der verworrenen Quellenlage her.

Die drei Arten von Irritation, die oben geschildert wurden, brauchen im Unterricht nicht verschwiegen zu werden. Im Gegenteil: sie sollten den Ausgangspunkt einer handlungsorientierten Aneignung der "Guantanamera" bilden, in der Irritation in Nachdenken und Verstehen umschlagen kann.

Wir schlagen daher vor, "Guantanamera" mit den Mitteln der szenisch-musikalischen Interpretation so zu erarbeiten, dass die Irritationen produktiv werden.


Didaktische und methodische Konsequenzen - szenische Interpretation der "Guantanamera"

Musikalische Basiserfahrung

Wir beginnen mit einer musikalischen Basiserfahrung. Darunter verstehen wir keine Liedeinstudierung, wie es die "Schnittstellen" bei Irmgard Merkt sind, keine Textblätter, keine Aussprache- und Intonationsprobleme, keine Noten oder Liederbücher. Dagegen bilden wir einen Rhythmuskreis im "TaKeTiNa"-Stil, in den der Refraintext rhythmisch hineingesprochen wird.

Die Klasse - das Folgende funktioniert in der 4. Grundschulklasse genau so wie in der Musiklehrerausbildung an der Universität - steht also im Kreis und "geht" im 4/4-Takt auf der Stelle (irgendein "Tritt", am besten das Hin-und-Her von TaKeTiNa). Mit Körperinstrumenten wird das Guajira-Pattern einstudiert:

Text in Call and Response

Wenn der Rhythmus "grooved", beginnt die LehrerIn den Refraintext hinein zu sprechen oder zu singen, die SchülerInnen beantworten ihn wörtlich, ohne mit der Bewegung aufzuhören. Es setzen sich somit die drei "TaKeTiNa"-Ebenen zusammen: Fußbewegung (4/4), Hände (das Pattern) und Stimme (Response auf den Call):


 

El Kaida, Taliban und "Guantanamera"?

Im szenischen Spiel haben die SchülerInnen eine der wichtigsten "Daseinsformen" des Modells der "Guantanamera" rekonstruiert und sich mit der Frage auseinandser gesetzt, was die Identität eines politischen Liedes ausmacht. Die musikpraktischen Basisübungen waren kein Selbstzweck, sondern eine Vorübung für den Radiospot. Die "Info" auf Arbeitsblatt 1 war nicht aufgesetzt, sondern lieferte den notwendigen Stoff für das nachfolgende szenische Spiel. Insgesamt sind die SchülerInnen spielerisch zu dem vorgestoßen, was wir durch die Irritation hindurch als "Wesenskern" der "Guantanamera" erkannt haben. Doch noch mehr. Die SchülerInnen setzen sich en passant mit der Geschichte Kubas, mit den Befreiungskriegen und der Situation nach der Revolution Castros auseinander. Sie erfahren etwas von der US-amerikanischen Protestbewegung der 60er Jahre und einem zentralen Problem der "Ausbeutung" von Musikern aus Drittweltländer durch die musikindustriellen Mechanismen der Zweiten Welt.

Einschlägig und aktuell ist das Beispiel von "Buena Vista Social Club". Die kubanischen Musiker erhielten für die Studioarbeit zunächst eine einmalige und für lokale Verhältnisse relativ üppige Gage. Der amerikanische Produzent hat sich dadurch "frei gekauft". Seither kassiert er für jede der zig Millionen verkauften CD’s Prozente, während die Musiker selbst als "abgegolten" gelten. Dieser Vorgang ist rechtens und geschieht sogar im gegenseitigen Einvernehmen. Es ist dies der systemimmanente "Betrug" des Imperialismus: wer die Produktionsstudios und Vertriebssysteme besitzt, der kann über die Produkte der Musiker nach eigenem Ermessen verfügen.

Es ist nicht zu vermeiden, dass die SchülerInnen im Anschluss an das szenische Spiel wissen möchten, was denn "wirklich" los war. Je nach Interesse wird sich das Gespräch ausweiten: Wie eine ausufernde Brain Map knüpft ein Faden an den anderen. Guantánamo ist die ärmste

Provinz Kubas, zugleich die geschichtsträchtigste. Dort siedelten vor allem Einwanderer von den Kanarischen Inseln. Die Sitte des improvisierende Décima-Singens ist in La Palma noch heute anzutreffen. Die erste Phase des Befreiungskampfes (1895-98) wurde durch den spanisch-amerikanischen Krieg und die Besetzung Kubas durch die USA (1899-1902) abgelöst. 1903 wurde Kuba selbständig und mußte ein 116 km2 großes Areal an der Bucht von Guantánamo als US-Militärbasis abtreten. Der "Pachtvertrag" läuft 2003 aus. Zwischen 1962 und 1999 wurden 8262 Verletzungen des kubanischen Hoheitsgebietes und 5236 "provocaciones" registriert. Fidel Castro nimmt seit 1959 die "Pachtzahlungen" von 4085 $ demonstrativ nicht mehr an. Das Militärgebiet war bis Ende 2001 durch einen "Kakteenvorhang" (stachelige Kaktusstauden) geschützt, der im Laufe der 90er Jahre aber von 40 000 Flüchtlingen überwunden wurde. (20 000 davon durften in die USA ausreisen.) Seit Mitte Januar 2002 wird ein starker Stacheldrahtverhau gebaut. 15000 zusätzliche US-Polizisten schützen diesen neuen Zaun. Das "kommunistische Kuba" soll offensichtlich vor den gefährlichsten Menschen der Welt, vor den in Afghanistan gefangenen Taliban und El Kaida-Kämpfern, geschützt werden. Ende Januar (= Entstehungsdatum des vorliegenden Artikels) wurden die ersten Gefangenen der USA nach Kuba transportiert. Die USA lehnen es ab, die Gefangenen als Kriegsgefangene zu behandeln (Abbildung 8).

Fazit: Der Kalte Krieg zwischen USA und Kuba äußert sich nicht nur in der anhaltenden Wirtschaftsblockade, sondern auch in "provocaciones" vielfältigster Art. Als Pete Seeger "Guantanamera" 1963 erstmals in New York sang, war es eine Solidaritätsbekundung gegenüber der kubanischen Revolution. Ein Jahr später begannen die USA den erfolglosen Vietnamkrieg und "Guantanamera" wurde zum Protestlied der US-Friedensbewegung. Seegers Botschaft ist damals gut verstanden worden. Sie wurde als kriegszersetzend eingestuft und nicht mehr gesendet. Auf einer Internetseite des "Vereins zur Pflege des Erbes José Martís" zu "Guantanamera" (www.josemarti/tema/guantanamera.htm) wird auf den symbolischen Zusammenhang zwischen dem US-Pachtvertrag und dem Lied (mit dem Text José Martís) hingewiesen. Ob wir heute "Guantanamera" wieder als Anti-Kriegslied einsetzen könnten? Anlässe gibt es genug.


Anmerkungen

1 Aus www.paginet.net/manuel/pintu.html.

2 Egon Ludwig: Música Latinoamericana. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2001, S. 321. Peter Wicke, Kai-Erik und Wieland Ziegenrücker: Handbuch der populären Musik. Atlantis-Schott, Mainz 1997, S.212. Zitat von Joseíto Fernandéz in Maria Roy: Buena Vista. Die Musik Kubas. Palmyra-Verlag, Heidelberg 2000, S. 133: "... ich arbeitete eine Guajira um, die ich 1929 geschrieben hatte".

3 Carlos Fariñas wurde mir als Fachmann in Sachen "Guantanamera" empfohlen und begründete diese Auffasung in einem Brief an mich vom 18.1.2002.

4 Die Lexikon-Definition, Guajira stehe in 3/4 und 6/8, trifft nur auf die urbane Guajira-Adaption zu. Viele bekannte Guajiras stehen wie "Guantanamera" in 4/4. Vgl. die Guajira "El Carretera" der CD "Buena Vista Social Club" mit der Harmoniefolge von Abbildung 3.

5 Wiedergegeben in: Cantaré. Songs aus Lateinamerika. Weltkreis-Verlag Dortmund 1978, S. 333-334.

6 Nach Maya Roy, S. 132. Ebenso www.cuba.com.mx/guantanamera.html (Text von María Argelia Vizcaíno).

7 Maya Roy, S. 334.

8 Der kubanische Komponist Carlos Fariñas in einem Brief vom 18.1.2002 an den Autor.

9 Nach Claus Schreiner: Musica Latina. Fischer-Verlag Frankfurt 1982, S. 126.

10 Fußote 5.

11 María Argelia Vizcaíno: "La Guantanamera" in 4 Teilen, in: www.soncubano.com/temas/guatanamera.htm.

12 Irmgard Merkt: Interkulturelle Musikerziehung. In: Musik und Unterricht 9/1993, S.4-7. Online unter www.interkulturelle-musikerziehung.de (und dann weiter zu"Grundlagentexten").

13 Auf der staatlichen Kuba-Homepage heißt es hierzu: "Mietras son peras o manzanas, lo que es inegable es que una de las melodías más hermosas..." (www.cuba.com.mx/ mit dem Link: "Guatanamera").

14 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20.1.02. "Foto AP: freigegeben durch die amerikanische Marine". Text: "In Großbritanien wächst die Sorge um die faire Behandlung mutmaßlicher Taliban- und Al-Qaida-Mitglieder auf dem amerikanischen Stützpunkt Guantanamo in Kuba".