Blatt 4

„Holocaust-Erziehung"

Zwei klassische Texte

Theodor W. Adorno:

„Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" (1959). In: Eingriffe. Neun kritische Modell. Suhrkamp Ffm.1963.

Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. ...

Vor allem muß Aufklärung über das Geschehene einem Vergessen entgegenarbeiten, das nur allzu leicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet...

...dann setzt das auch der aufklärenden Pädagogik ihre Grenzen. Mag sie nun soziologisch oder psychologisch sein, praktisch erreicht sie ohnehin wohl meist nur die, welche dafür offen und eben darum für den Faschismus kaum anfällig sind. Andererseits ist es keineswegs überflüssig, auch diese Gruppe gegen die nicht-öffentliche Meinung durch Aufklärung zu stärken. ...

Hinweise auf große Leistungen von Juden in der Vergangenheit, so wahr sie auch sein mögen, nützen kaum viel, sondern schmecken nach Propaganda. ...

Ich glaube auch nicht, daß durch Gemeinschafstreffen, Begegnungen zwischen jungen Deutschen und jungen Israelis und andere Freundschaftsveranstaltungen allzu viel geschafft wird. Man geht dabei allzusehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden, während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, daß er überhaupt keine Erfahrungen machen kann, daß er sich nicht ansprechen läßt.

Theodor W. Adorno:

„Erziehung nach Auschwitz" (1966). In: Stichworte. Kritische Modelle 2. Suhrkamp Ffm. 1969.

Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. ... Es ist die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht von drohendem Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das Ganze des Grauens. ... Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Voraussetezungen, die solche Ereignisse ausbrüten, zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt ist, sind Versuche, der Wiederholung entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt. Damit meine ich wesentlich auch die Psychologie des Menschen. ...

[„Täter-Analyse"] Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst die Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt. Nicht die Ermordeten sind schuldig. Schuldig sind allein die, welche besinnungslos ihren Haß und ihre Angriffswut an ihnen ausgelassen haben. Solcher Besinnungslosigkeit ist entgegenzuarbeiten, die Menschen sind davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen. Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion.

Ich fürchte, durch Maßnahmen auch einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, daß Schreibtischmörder nachwachsen. Aber daß es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen, dagegen läßt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen.

Ich spreche von Erziehung in der Kindheit, zumal der frühen; dann allgemeine Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zuläßt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermaßen bewußt werden. ...

Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch... Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde. ...

Wenn rationale Aufklärung auch nich geradewegs die unbewußten Mechanismen auflöst, so kräftigt sie wenigstens im Vorbewußtsein gewisse Gegeninstanzen und hilft ein Klima bereiten, das dem Äußersten ungünstig ist. ...

Weiter wäre aufzuklären über die Möglichkeit der Verschiebung dessen, was in Auschwitz sich austobte. ...

Konkrete Möglichkeiten des Widerstandes wären immerhin zu zeigen. ...

Schließlich müßte man nach den spezifischen, geschichtlich objektiven Bedingungen der Verfolgung fragen. ...

Kritisch zu behandeln wäre, um nur ein Modell zu geben, ein so respektabler Begriff wie der der Staatsraison. ...


Ein aktueller Text:

Annegret Ehmann:

Erziehung nach Ausschwitz" oder „Holocaust Education". Entwicklungen, Möglichkeiten und Grenzen. In: polis 4/2001, S. 7-9.

Der Begriff Holocaust hat sich Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte zunehmend von der Geschichte gelöst und wurde zu einem quasi mythischen, sakralen Ereignis des unverhüllten Bösen, wie der amerikanische Historiker Peter Novick in seiner 2001 in deutscher Übersetzung erschienenen kritischen Untersuchung unter dem Titel „Nach dem Holocaust" darlegt. Diese dekontextualisierte, amerikanische Sicht des Holocaust wurde inzwischen nach Europa und Deutschland reimportiert und rezipiert, sinnbildlich u.a. im Holocaust Mahnmal in Berlin. Mit der Konzeption des am 9. September 2001 eröffneten Jüdischen Museums in Berlin deutet sich ein Paradigmenwechsel in der Interpretation der jüdisch-deutschen Geschichte an, der eine Abkehr von der bislang ausschließlichen Opferperspektive erkennen läßt. ...

Die Begründung für die Forderung einer weltweiten Holocaust-Erziehung lassen oft erkennen, dass es gar nicht um Geschichtslernen und die Entwicklung von Kompetenzen zum kritischen Umgang mit historischem Wissen geht, sondern vielmehr um moralische Erziehung. Es wird behauptet, dass durch Vermittlung von Information und Kenntnissen über den Holocaust Kinder und Jugendliche gegen Neonazismus und heutige rassistische Einstellungen immunisiert werden könnten, bzw. dass sich durch Holocaust-Education dauerhaft Werte wie Menschenwürde und Demokratie im Bewusstsein Jugendlcher verankern.

Es hat sich in der pädagogischen Praxis der zurückliegenden Jahre jedoch gezeigt, dass Aufklärungs- und Betroffenheitspädagogik zum Zweck der Korrektur politisch, emotional und moralisch fehlentwickelten Verhaltens wirkungslos sind. ...

Alle Lerntheorien gehen davon aus, dass Menschen, gleich welchen Alters, durch chalk and talk nicht nachhaltig belehrbar sind, sondern auf Grund eigener Motivation erst dann am effektivsten lernen, wenn sie Denken mit Fühlen und Handeln verbinden. Dies geschieht am erfolgreichsten im Projektunterricht, bei dem die Lernenden nicht Objekte sondern Akteure des Lernprozesses sind, den sie partnerschaftlich mit den Lehrern gestalten. ...

Einen Kausalzusammenhang zwischen Wissen über den Holocaust und humaner Orientierung gibt es nicht. Einem Menschen, der nichts von Auschwitz weiß, kann sehr wohl bewusst sein, dass man Fremde und Schwächere nicht diskriminieren und misshandeln darf. ...

Erwartungen, von den Zeitzeugen zu erfahren, „wie es wirklich gewesen ist", oder nur über ihre Berichte emotionmale Betroffenheit bei Jugendlichen bewirken zu können, sind allerdings weit überzogen. ...

Zur Bekämpfung des Rechtsextremismus jedenfalls eignen sich die propagierten Modell klassischer Holocaust-Aufklärungspädagogik nicht. Rechtsextremismus signalisiert ein Defizit an Demokratie und Toleranz. Demokratiedefizit und Toleranzfähigkeit können durch Selbstwert- und Persönlichkeit fördernde Massnahmen unter anderen Rahmenbedingungen gefördert werden, aber das ist ein anderes Thema.


Aktuelle Diskussionspunkte

 

Kritische Auseinandersetzung mit der ganzen Geschichte (nicht nur den Juden). Statt Rekonstruktion, was geschah, Untersuchung, warum es geschah. Anschaulichkeit/Konkretheit: Zeitzeugenberichte, Spurensuche vor Ort.

„Der Jude" nicht als Abstraktum, sondern konkret.

Aufklärung kann das „Klima" verändern bzw. beeinflussen. Nicht einen Einzelnen ändern. Empathie ist notwendige Voraussetzung dafür, dass Aufklärung sinnvoll ist.
Nicht nur Opfer-, sondern auch Täterperspektive.

Auch Retter und Widerständler.

(„Man kann etwas tun!")

Thematisierung des Zusammenhangs zwischen aktuellem Antisemitismus und Rassismus.
Kritik an moralischer Erziehung.

Kritik an Betroffenheitspädagogik. Schuldfrage - „gesellschaftliche" - problematisch: erstens wegen der 3. Generation, zweitens wegen der multikulturellen Gesellschaft.

Gedenkstättenbesuche oder Holocaust-Mahnmal versus „Jüdisches Museum" in Berlin.

 

Erziehung zu Demokratie und Toleranz, Menschenrechte ist wichtiger gegen Antisemitismus als Holocaust-Erziehung. Menschenrechtserziehung benötigt Auseinandersetzung mit Menschenrechtsverletzungen.
Widersprüchliche Erscheinungn der Tagespolitik müssen miteinbezogen werden.

Keine Übertragung US-amerikanischer Konzepte auf Deutschland sinnvoll.

Internet- und andere Kontakte zu politisch unterschiedlichen Gruppen in Israel.

US-Diskussion: z.B. „Die Holocaustindustrie". Klezmer-Revival.


Literatur zur Holocaust-Pädagogik

POLIS 4/2001: Schwerpunkt „Holocaust-Erziehung" (eher theoretisch)

Praxis Geschichte 6/1995: Themenheft „Der Holocaust" (ausschließlich unterrichtspraktisch):

Internetadressen: