Aus: Diskussion Musikpädagogik 14, 2/2002, S. 23-27 (Abdruck des Textes ohne Fußnoten und kritischen Apparat).
Musik oder Musikunterricht an der Schule?
Je intensiver und selbstverständlicher Musik den Alltag von Kindern und Jugendlichen durchdringt, umso deutlicher wird auch der Unterschied zwischen einem Leben mit und einem Leben von Musik, einem laienhaften und einem professionellen Umgang mit Musik. Die Meisten, die von Musik leben, allen voran jene, die vom Musikunterrichten leben, haben sich angewöhnt, taktische Überlegungen über ihre Herzensgefühle zu stellen, jene Gefühlen, denen Laien freien Lauf lassen können, ohne persönlichen Schaden zu erleiden. So starren wir alle - die MusiklehrerInnen, Verbände, die WissenschaftlerInnen, die MusikstudentInnen und die lehrerausbildenden Anstalten - auf Stundentafeln und den Stellenwert des Faches „Musik" darin, auf die Einstellungszahlen und AbsolventInnenquoten, auf BewerberInnen, Studienplätze, Staatsexamina, Referendariatsplätze und speziell in Musikpädagogik ausgebildete MusiklehrerInnen an allgemeinbildenden Schulen.
Mit Zähnen und Klauen verteidigen wir damit ein System, das tagtäglich in Frage gestellt und von uns MusikpädagogInnen eher gehasst als geliebt wird: das der „Schule nach PISA", in der einem Diktum der bislang eher musenfreundlichen CDU folgend „Schluß mit Spiel- und Spaßpädagogik" sein soll, an der Kinder rechnen und lesen und schreiben lernen sollen, an der Musik der „public relation"-Abteilung im Konkurrenzkampf „autonomer" Schulen zugeordnet wird und von deren Orientierung an messbarer Iltelligenz sich selbst der bundesdeutsche Transfer-Apostel Hans Günther Bastian vorsichtig distanziert, wenn er im Vorowtr der Sony-CD „gehinr-jogging mit mozart" schreibt:
Der „Mozart-Effekt" existiert, aber sozusagen auf einer kleinen Insel in einem Meer jener Effekte, die wir individuell durch seine Musik erfahren... Der in engen messbare Intelligenzeffekt steht schließlich in keinem Verhältnis zu den Gefühlswirkungen, deren mittelbaren Benefizien sich nur eben nicht so einfach messen lassen
Fast gleichlautend resumiert Eckart Altenmüller in einem Artikel „Macht Musik intelligent?":
Auch wenn also bislang wenig wissenschaftlich fundierte Beweise existieren, möchte ich doch zum Schluss ein Plädoyer für die positiven Auswirkungen des Musizierens auf die Gordonschen Intelligenzfertigkeiten halten... Und daher [?] ganz zum Schluss ein Appell: Musik und Musizieren brauchen keine vordergründige Legitimation, niemand würde auf die absurde Idee kommen, Musik zu machen, um intelligent zu werden. Nein, Musik ist eine menschliche Notwendigkeit und ein Teil unseres Lebens. Der Umgang mit Musik gehört in unsere Gesellschaft, weil Musik eine der wenigen Möglichkeiten darstellt, Zugang zu den Dimensionen des Unaussprechlichen zu finden".
Legen wir alle taktischen Überlegungen und Argumentationsmuster einmal beiseite, so bleibt unter MusikpädagogInnen ein schnell erzielbarer Konsens: „Musik an deutschen Schulen: ja!" Aber, muß es Musikunterricht, muß es Musik als Schulfach, muß es Musik als Stundentafelplazierte, muß es Musik als Klassenunterricht, muß es Musik sein für solche, die unwillig, störrisch und destruktiv sind? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, sobald einmal die Taktik schweigt. Hans Bäßler hat sie in seinem „Krisenbericht" vom 20. September 2000 viel zu verhohlen angedeutet, um verstanden zu werden. Ich möchte die fehlende Deutlichkeit nachholen, indem ich vorübergehend mal alle taktischen Überlegungen beiseite schiebe.
Die Suche nach einer Antwort führt zurück in Fachgeschichte, in jene Zeit, wo Bücher mit dem Titel „Musik und Musikunterricht in der Gesamtschule" erschienen und die ersten professionellen Universitätsausbildungsgänge im Fach „Musik" für Grund-, Haupt-, Real-, Sonder- und Berufsbildende Schulen entstanden sind. Es war jene Zeit, an die sich die durch PISA schockierten BildungspolitikerInnen Ende 2001 wieder erinnern, wenn sie feststellen müssen, dass Länder mit Gesamtschulsystemen „besser" zu sein scheinen als solche mit einem gegliederten System. Und es war jene Zeit, die aus dem Picht’schen Schock-Ruf der „Bildungskatastrophe" politische Konsequenzen gezogen hatte.
Helmut Segler fragt in seinem programmatischen Kapitel „Musik und Musikunterricht", ob und wie Musik überhaupt unterrichtet werden kann, da Musik nach der „Lehre" durch die Avantgarde und Popmusik kein „lehrbares und abgeschlossenes System" mehr ist. „Eine sinnvolle Stellung im Bereich der Schule kann Musikunterricht dann erhalten, wenn sowohl enger Fachegoismus zugunsten größerer curricularer Zusammenhänge als auch die Auffassung von der unbedingten pädagogischen Dimension der Musik aufgegeben werden". In „Systemzwang und Selbstbestimmung" propagiert Hartmut von Hentig unter einer Revision der „allgemeinen Lernziele der neuen Schule" die Aufhebung des Faches Musik in einen größeren Zusammenhang, den er mit folgenden Thesen umreißt:
(Fähigkeit, auszuwählen, Ziele zu setzen, Spielraum zu nutzen:) Wie man den Spielraum nutzt - das zu lehren oder erfahren zu lassen, wird die Hauptaufgabe des künstlerischen Unterrichts sein. An der Kunst wäre vor allem zu lernen, wie man unsystematisch „erforscht", was unter gegebenen Bedingungen möglich ist - im Unterschied zur Wissenschaft, die systematisch erforscht, was wirklich ist".
(Die Fähigkeit, das Wahrnehmen und Gestalten der eigenen Umwelt zu genießen, zu kritisieren, zu verändern:) Die Unterwerfung der individuellen Reaktionen unter die Werthierarchie der klassischen Kunstwerke... die Verherrlichung des Schaffensprozesses an sich - sie beeinträchtigen alle gleichermaßen unser Verhältnis zu einer mit dem Wort „Kunst" bezeichneten individuellen und gesellschaftlichen Funktion: zur Selbstbestätigung und Selbstbefreiung durch Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten. ... [Der Schüler] muß lernen, die Kunst von ihren Wirkungen her aufzunehmen, nicht von ihrem historischen Wert oder ihren theoretischen Absichten.
Seglers und von Hentigs Konzept zielt nicht nur auf einen veränderten Musikbegriff, sondern eine vollkommen ungewöhnliche Stellung von Musik an der Schule bzw. im Lernprozess von SchülerInnen überhaupt. Bekanntlich hat der Anspruch, den „Fachegoismus" zu transzendieren, zur Forderung geführt, dass für alle allgemeinbildenden Schulen Westdeutschlands professionell ausgebildete MusiklehrerInnen herangezogen werden sollten. Bis heute ist diese Forderung nicht eingelöst, wie die regelmäßigen statistisch fundierten Klagen des vds zeigen. Dennoch war man an einigen Musiklehrerausbildungsstätten bemüht, den Forderungen der „Lernziele der neuen Schule" curricular nachzukommen. Dabei wurde es Ernst mit den Sonntagsreden, und das böse Erwachen machte sich in einem Themenheft von „Musik und Bildung" (7-8/1975) Luft, in dem Friedrich Klausmeier, Helga de la Motte-Haber, Peter Brömse, Gisela Dister-Brendel, Heinz Antholz einen von Egon Kraus organisierten konzertierten Aufschrei von sich gaben.
Die Professionalisierungs-Idee erwies sich allerdings als Januskopf. Mit der propädeutischen Orientierung von Musikunterricht, mit der ehrenvollen Aufnahme des Schulfaches in den Kanon der Abiturfächer und dem damit einher gehenden Anspruch einer Verwissenschaftlichung begannen verzweifelte und überforderte MusiklehrerInnen sich auf ihr eigenes Hochschulmusikstudium zu besinnen und ein Mini-Musikstudium an westdeutschen Gymnasien zu inszenieren. Die Geister, die die Oberstufenreform rief, wurde der Musikunterricht insgesamt nicht mehr los. Viele Lerninhalte und -verfahren auch der Grund- und Mittelstufe wurden aus der „Sache Musik", wie man sie an der Musikhochschule kennen und lieben gelernt hatte, heraus legitimiert und so wurde es zur Gewohnheit, von MusiklehrerInnen aller Stufen - sofern sie vorhanden waren - einen Unterricht zu erwarten, der eine verkappte Vorbereitung auf einen professionellen Umgang mit Musik darstellte.
Während Helmut Segler ganz im Einklang mit den aktuellen PISA-Ergebnissen die integrierte Gesamtschule als die beste Schulform ansieht, in der sich Musikunterricht seinem Konzept gemäß entfalten kann, entwirft Hartmut von Hentig mit den Bielefelder Schulprojekten einen 1974 gestarteten und heute noch erstaunlich intakten Alternativplan. In seinem Oberstufen-Kolleg kristallisiert sich der latente Widerspruch von grenzüberschreitendem Musikbegriff und wissenschaftspropädeutischem Oberstufenanspruch in zwei unterschiedlichen Unterrichtsformen aus, der an unterschiedliche Adressatengruppen gerichtet ist. Da gibt es einerseits (mit ca. 40% Gesamtanteil) den Wahlfachunterricht, in dem berufsbezogen und mit Professionalisierungsabsicht gelernt wird. Der Wahlfachunterricht Musik gleicht einem (aufnahmeprüfungslosen) Grundstudium an Musikhochschulen und Universitäten und wird von circa 5% der KollegiatInnen besucht. Die Ähnlichkeiten mit Musik-Leistungskursen sind unverkennbar.
Neben dem Wahlfachunterricht jedoch gibt es einen obligatorischen interdisziplinären „Ergänzungsunterricht", seit einigen Jahren unter sogenannten fächerübergreifenden Themenschwerpunkten zusammengefasst:
Mit dem Wintersemester 1996 begann das Vorhaben, die fächerübergreifenden Kurse nach Themenschwerpunkten zu gliedern. Themenschwerpunkte werden betreut von einer festen Gruppe von Lehrenden und bleiben über längere Zeit bestehen. KollegiatInnen wird empfohlen, mehrere Kurse zu einem Themenschwerpunkt zu absolvieren. Dazu können innerhalb von Themenschwerpunkten Sequenzen gebildet oder Voraussetzungen für einzelne Kurse benannt oder Empfehlungen für die Reihenfolge von Kursen gegeben werden.
Themenschwerpunkte, bei denen ein musikalischer Aspekte realisiert war, lauteten im Sommer 2001:
- KG: Kulturen und Geschichten
Kurse zum Themenschwerpunkt Kulturen und Geschichten sollten die Fähigkeiten vermitteln, das sich ständig wandelnde Zeichengewebe (Sprechen, Handeln, Symbole, kulturelle Codes, Kunstwerke u.v.m.) in seinen vielfältigen Verknüpfungen und Brüchen zu erkennen, zu beschreiben und vor dem Hintergrund historischer Prozesse zu deuten. So verstanden bietet Kulturwissenschaft keine Vorbereitung für ein Berufsfeld Kultur- und Freizeitindustrie, sondern ist eine spezifische Perspektive auf die uns umgebende Wirklichkeit, sowohl in ihrer Komplexität, Differenziertheit als auch Wandelbarkeit.
- VK: Verführung zur Kunst
Ist Kunst eine Sprache? Kunst ist mit dem unausrottbaren Vorurteil verbunden, sie müsse unmittelbar, ohne alle Vorkenntnisse, verständlich sein. Und dieses kuriose Vorurteil ist das sicherste Mittel, um einen Zugang zur Kunst zu verhindern.
Die "Sprache der Sinnlichkeit" läßt sich erlernen, sie läßt sich nicht nur lernen zu verstehen, sondern ebenso zu "sprechen". Jede Kunst hat ihre "Wörter" - ihr Material - und ihre "Sätze" - ihre Form: das Gemeinsame aller Künste ist, daß sie ihr Material in eine Form bringen.
Woraus besteht das Material zur Kunst? ...In der Tonkunst besteht es aus Stimmen, Instrumenten, Tönen, Klängen, Geräuschen ... In der Schauspielkunst besteht es aus Körpern, Mienen, Gesten, Bewegungen, Requisiten ...Künstler und Künstlerinnen suchen aus ihrem Vorratsschatz Elemente aus und suchen sie so zusammenzufügen, daß eine "Idee" entsteht.
- VR: Das allmähliche Verschwinden der Realität
Über das, was Wirklichkeit ist, läßt sich trefflich streiten. Für viele ist zunächst einmal nur das wirklich oder real, was man selber sieht, hört oder fühlt, die Dinge, Personen und Vorgänge in unserer unmittelbaren Nähe. Für real hält man gewöhnlich auch das, wovon andere glaubwürdige Personen erzählen oder was man nachlesen kann. So wird man z. B. China auch dann für real halten, wenn man selber noch nie da war. Schon lange gibt es technische Hilfsmittel, die die Reichweite unserer Sinnesorgane ausdehnen, wie Telefon und Fernsehen. Was auch immer an Bemerkenswertem auf dem Erdball passiert, es gehört längst zu einer oft traurigen Realität...
Frühere Konzepte des Ergänzungsunterrichts sahen „Oberthemen" vor, die von mehreren Teildisziplinen methodisch unterschiedlich bearbeitet werden sollten. Die teildisziplinären Arbeitsschritte und -ergebnisse wurden laufend gegenseitig ausgetauscht. Themen, an denen das Fach Musik beteiligt war, lauteten beispielsweise: „Wie leben Gastarbeiter in Deutschland?", „Kulturpolitik in der DDR und BRD im Vergleich", „Kommunikation im Kapitalismus". Die musikspezifischen Beiträge der genannten Themen lauteten „Musikkultur der Gastarbeiter", „die Ausbürgerung Wolf Biermanns", „Musikkonsum und Kaufverhalten".
Die Relation von Wahlfach- und Ergänzungsunterricht im Sinne Hartmut von Hentigs spiegelt die antagonistischen Aspekte von „Musiklernen" wider. Der Wahlfachunterricht realisiert das, was vielen MusiklehrerInnen vorschwebt, wenn sie sich um den „historischen Wert und die theoretischen Absichten" (siehe Hentig-Zitat, Fußnote 9) von Musik abmühen und das Ideal einer Mini-Hochschulausbildung im Sinne einer partiellen Musikprofessionalisierung der SchülerInnen verfolgen. Die Legitimation für einen derartigen Musikunterricht ist ausschließlich die Professionalisierungsabsicht, also ein Spezialfall von Ausbildung, von dem stets die Frage ist, ob er nicht besser, weil unbehinderter von Musikschulen geleistet werden kann.
Der Ergänzungsunterricht hingegen kann Musik in jenen Wirklichkeitszusammenhang stellen, in dem Musik dem Laien jenseits von Professionalisierungsabsicht entgegentritt. Dieser Wirklichkeitszusammenhang ist notwendig interdisziplinär und an Fragestellungen orientiert bzw. auf Ziele ausgerichtet, die nicht musikspezifisch sind, jedoch einen musikalischen Aspekt besitzen, der nicht vernachlässigt werden kann, wenn die jeweilige Frage befriedigend beantwortet bzw. das jeweilige Ziel erreicht werden soll. Bei der Bearbeitung derartiger Fragestellungen bzw. beim Verfolgen entsprechender Ziele ist Musikprofessionalismus auf Seiten der LehrerIn gefordert, Musikprofessionalität ist aber kein Ziel des Unterrichts.
Mit der von Hentig’sche Idee läßt sich meines Erachtens ein Knoten lösen, um dessen Auflösung sich die aktuelle musikpädagogische Diskussion bemüht. Taktisches Kalkül einmal beiseite: Warum plädieren wir nicht für eine Reduktion von Musik in Gestalt von Musikunterricht für wenige SpezialistInnen mit Professionalisierungsabsicht zugunsten einer zweiten Unterrichtsformen, in der Musik so bearbeitet wird, wie sie „wirklich" ist und vorkommt? Freilich läuft dies Plädoyer auf eine Veräderung von Lernformen und Schulorganisation hinaus, die das Fach Musik nicht allein betreffen und die vom Fach Musik alleine auch nicht geleistet werden kann. Aber das Fach Musik könnte ein Motor in dem Prozess werden, der eine solche Veränderung herbeiführt.
Projekttage und nachmittägliche Musiktheater-AG’s enthalten zwar schon den Kern eines derartigen „modernen Ergänzungsunterrichts", verlagern die Idee jedoch in die Beliebigkeit von Freizeit und Zufall. Der moderne Ergänzungsunterricht von Hentig’scher Prägung sollte ernsthafter Unterricht sein, nur eben kein Musikunterricht - getreu Hanns Eislers Diktum: Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch von Musik nichts.
Einige der wichtigsten und von den meisten PolitikerInnen auch akzeptierbaren Aufgaben allgemeinbildender Schulen haben unverzichtbar musikspezifische Aspekte, zum Beispiel die Medienpädagogik, die interkulturelle Kommunikation und das Geist-Körper-Training. Bei diesen Aufgabenfeldern kann auf die Mitarbeit von Musikprofis nicht verzichtet werden, wenn die Gesamtaufgabe nicht dilettantisch gelöst werden soll. Es ergibt aber keinen Sinn sondern nur große Reibungsverluste, wenn diese Lernfelder in einen traditionellen Musikunterricht „hineingezwängt" werden, wie dies heute von progressiven MusiklehrerInnen ja weitgehend versucht wird. Die Musikprofis hätten in einem modernen Ergänzungsunterricht von Hentig’scher Prägung darauf zu achten, dass Medienpädagogik, interkulturelle Kommunikation und Geist-Körper-Training im Hinblick auf musikalische Tätigkeiten professionell ablaufen. Eine enge Sicht auf die Musik (gar in Verbindung mit dem Ziel musikalischer Grundkompetenzen) ist dabei genauso wenig professionell wie Medienpädagogik, interkulturelle Kommunikation und Geist-Körper-Training, die von Musik nichts „verstehen" würde.
In einer vor kurzem erschienenen Ausgabe von „Musik und Bildung" (Heft 6/2001) haben namhafte Ausbilder von MusiklehrerInnen für einen besseren und intensiveren Praxisbezug der Musiklehrerausbildung plädiert. Dabei war weniger die künstlerische Musik- als vielmehr die schulische Berufspraxis gemeint. Indessen genügt dieser Praxisbezug alleine nicht, wenn die Praxis, auf die man sich bezieht, selbst fragwürdig ist. Zwischen taktischem Verhalten in der Schul- und Verbandspolitik, der Musikunterrichts-Realität und der praxisbezogenen Musiklehrerausbildung besteht eine unauflösliche Wechselwirkung. Läßt man die übliche Taktik fallen und entwirft eine „neue Schule" (wie es zu Beginn der 70er Jahren im Falle der Gesamtschulen geschehen ist), so stellt sich die Frage nach einer „besseren" Musiklehrerausbildung ebenfalls neu. Dabei ist von einer solch „verbesserten" Musiklehrerausbildung zweierlei zu fordern:
die zukünftigen MusiklehrerInnen sollten in der Lage sein, aus „egoistischen" Interessen an der Veränderung von Schule mitzuwirken, um eine Befreiung der Musik von den Fesseln des Musikunterrichts jenseits von Professionalisierungsabsichten zu erkämpfen und Musik dorthin zu stellen, wo sie im Leben der SchülerInnen wirklich vorkommt,
die zukünftigen MusiklehrerInnen sollten darüber hinaus in der Lage sein, neben einem auf Professionalisierung abzielenden Fachunterricht für eine kleine Schar entsprechend interessierter SchülerInnen den musikspezifischen Aspekt von Lernfeldern wie Medienpädagogik, interkulturelle Kommunikation und Geist-Körper-Training professionell bearbeiten zu können.
Dass die derzeitigen Musikausbildungsstätten weit davon entfernt sind, eine derartige Musiklehrerausbildung zu bieten, versteht sich von selbst. In einem beredten Plädoyer für die Durchbrechung des „circulus vitiosus" von professioneller Musikausbildung und schlechtem bis ausfallenden oder fachfremd erteiltem Musikunterricht hat Hans Jünger drei Alternativen durchgespielt: zwei betreffen die Veränderung der Aufnahmeverfahren für das Musiklehrerstudium, die dritte bricht ein Tabu. Wenn, so Jünger, durch eine veränderte Zulassung zum Musiklehrerstudium der „circulus vitiosus" nicht durchbrochen werden kann, dann müßten die Schulmusikabteilung samt Ressourcen aus den Musikhochschulen herausgeholt und in die Lehrerausbildung der anderen Fächer verlagert werden. In der Tat dürfte es kaum einen Empiriker unter uns MusikpädagogInnen geben, der nicht Hans Jüngers Tabu-Bruch nachvollziehen könnte: das Schulmusikstudium inclusive der Ausbildung für Grund-, Haupt-, Real-, Sonder- und/bzw. Gesamtschule an Musikhochschulen verschwendet seit 25 Jahren viel Zeit, Energie und Menschenwürde damit, ein ungeliebtes Berufsziel zu verfolgen, die Hochschule, die sich auf künstlerische Spitzenförderung sachgerecht spezialisiert hat, in einem Randbereich zu verunsichern, den effektiven künstlerischen Lehrbetrieb durch didaktischen Pragmatismus permanent zu stören, vehement Ressourcen zu verschwenden und zu allem Unglück auch noch die Beteiligten selbst unglücklich zu machen.
Liest man die Beiträge der erwähnten Ausgabe von „Musik und Bildung" zum Thema „Musiklehrerausbildung", so erkennt man unschwer, dass mehr die als Hälfte aller dort abgehandelten und mit Verbesserungsvorschlägen versehenen Probleme ausschließlich an Musikhochschulen existieren und weitgehend von Musikhochschulen selbst gezeugt sind. Für die Mehrzahl aller deutschen MusiklehramtsstudentInnen ist dieser Problemhorizont kaum ein Thema, weil sie nicht an Musikhochschulen studieren.
Befreien wir also die Musikhochschulen von der Schulmusik! Packen wir unseren Rucksack und ziehen dahin um, wo wir freudig aufgenommen werden, gut untergebracht sind und tabufrei arbeiten können. Tilgen wir das diskriminierende Wort „Schulmusik" aus unserem Sprachgebrauch und sagen einfach „Musiklehrerausbildung". Dieser Prozess sollte im gegenseitigen Einvernehmen und zum beidseitigen Gewinn vollzogen werden. Dann wäre es nicht mehr weit zu einer Musiklehrerausbildung, die die beiden oben genannten Ziele verfolgen könnte. MusiklehrerInnen wären dann nicht mehr konservative Mahner angesichts des Zerfalls von Werten, müßten nicht bei Transfereffekten Zuflucht nehmen oder den emotionalen Mangel schulischen Lernens auszugleichen versuchen. Sie könnten - von einem „Wahlfachunterricht", der professionalisiert, abgesehen - sich der „wirklichen Musik" zuwenden und Musiklernen in jene Zusammenhänge stellen, die lebensrelevant sind.
Auch die heikle Legitimationsfrage „Wozu Musikunterricht?" ließe sich einfacher als bisher beantworten. Die Antwort lautete „Musik an der Schule: Ja! Musikunterricht - jenseits eines Professionalisierungsghettos -: Nein!" Und Musik an der Schule wäre dann ein unverzichtbarer und professionell betriebener Aspekt von Medienpädagogik, interkultureller Kommunikation und Geist-Körper-Training (um die drei meines Erachtens derzeit zentralen Lernfelder zu nennen). Wenn dann dermaleinst eine vernünftige PISA danach fragen würde, inwieweit die deutschen SchülerInnen für ein erfolgreiches Handeln in der multikulturellen Republik und in einer sich globalisierenden Welt qualifiziert wären, dann würde niemand mehr auf die Idee kommen, bei einer solchen Qualifizierung die Mitarbeit eines Musikprofis zu vergessen.
Schließlich ließen sich mit dem Rezept
Musik statt Musikunterricht an der Schule!
Befreiung der Musikhochschulen von der Schulmusik!
in der Hand vier der fünf von Hans Bäßler vorgeschlagenen „Wege aus der Krise des Faches Musik" erfolgreich beschreiten: (1) Veränderung der Ziele des Unterrichts und (2) verändertes Verorten des Faches Musik in der Organisation der Schule sowie (3) vollkommene Neuorientierung der Musiklehrerausbildung und (4) vollkommen neu gedachte Lehrpläne.
Aus Sonntagsreden würde Wirklichkeit, aus taktischer Larmoyanz würde strategische Klarheit. Den richtigen Weg zu erkennen, heißt zwar noch nicht, diesen Weg auch bereits gegangen zu sein. Doch ohne klare Erkenntnis gibt es keinen aufrechten Gang und kein zielgerichtetes politisches Handeln, das auch Hans Bäßler als fünftes Elements seiner „Wege aus der Krise" nennt.