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Musikdidaktische Konzeptionen made in Oldenburg 1974-2004

Ein Briefwechsel zwischen André und Wolfgang im Februar 2005 im Rahmen des Seminars.

Thema Szenisches Spiel, Interkulturelle Musikerziehung und Capoeira

Die UE "Capoeira für Kinder" ist seinerzeit gerade erschienen. Der Briefwechsel bezieht sich explizit auf eine Video aus der 4. Klasse der Grundschule am Schrampersweg ("Kennedyviertel"). Es zeigt Ausschnitte aus einer Abschlussvorführung der UE im Schulinnenhof nach der Methode "Spielen nach Regieanweisungen".
Ein Jahr später hat André Hutson eine Examensarbeit zum Thema "Ist die Interkulturelle Musikerziehung rassistisch?" geschrieben. Er kritisiert dort aus Sicht der Weißseins-Theorie die Interkulturelle Musikerziehung und entwickelt - in visionärer Vorwegnahme der 15 Jahre späteren Diskussion um Kulturelle Aneignung - das Konzept einer " Reflexiven Interkulturellem Musikerziehung". Ich muss heute (2023) bemerken, dass mir seinerzeit die Sprengkraft der krtischen Ideen Andrés gar nicht voll bewusst geworden sind und mir meine im Folgenden kursiv gedruckten Antworten manchmal etwas blass erscheinen.

Nach Deiner gestrigen Einführung in das Konzept der Szenischen Interpretation als "Idealmethode" für die Interkulturelle Musikerziehung sind mir einige Fragen aufgetaucht: Was ist daran jetzt interkulturelle Musikerziehung? Bei der Capoeira wird doch auch nur außereuropäische Musik behandelt. Klar, sie wird kontextualisiert, wie sie in der konkreten Situation (in Brasilien) gemacht wird/wurde, welche inhaltlich-historische Bedeutung das Ganze hat. Doch ging es nicht bei der IME eher darum, die tatsächlich stattfindenden musikalischen Ausdrucksweisen der Menschen (vornehmlich bezogen auf die Lebenswelt der Schüler in Deutschland) verständlich zu machen?

Die neue interkulturelle Musikerziehung hat das Ziel der Lebensfähigkeit in der multikulturellen Bundesrepublik Deutschland und in einer zunehmend globalisierten Welt, so habe ich es formuliert. Um sowohl die Multikulti-Situation in Deutschland als auch die Globalisierung zu verstehen und damit - aktiv, bewusst, selbstbestimmt und sozial verträglich - umgehen zu können, sollte sich der Musikunterricht auch mit fremden Kulturen beschäftigen, die nur indirekt in Deutschland aktiv sind. Die konkrete Auswahl erfolgt überwiegend nach Kriterien der Machbarkeit.

Gut, wir finden Capoeira hier in Deutschland gerade als "Modetanz", doch - wie Melanie anscheinend herausgefunden hat - ist es ebenfalls in Brasilien ein Modetanz. Die Kinder lernen es in Schulen.

Das ist nicht ganz richtig. Die Kinder (in Bahia und Umgebung) machen Capoeira auf der Strasse, gerade die, die nicht zur Schule gehen. Wenn sie Capoeira nicht intuitiv lernen, so gehen sie auf eine eigene (private) Capoeira-Akademie. Es ist eine neue Bewegung, Capoeira im Sportunterricht an die allgemein bildenden Schulen zu bringen. Die Behörden haben dies aber aus der Tradition Angst vor Revolte noch nicht offiziell eingeführt. In der fortschrittlichen Musiklehrerausbildung wird Capoeira als alternative Sportart diskutiert. In jedem Fall haftet Capoeira auch heute noch etwas Revoltierendes an, auch wenn es inzwischen Züge des "Nationalsportes" gibt. Die brasilianische Gesellschaft ist nicht widerspruchsfrei.

Es findet also nicht diese Geschichte statt, welche die SchülerInnen hier nachspielen sollen (wie im Video gesehen). Höchstens bei Erinnerungs-Volksfesten.

Die historischen Entstehungszusammenhänge müssen, so hat es Melanie festgestellt, bei einigen Kindern nicht extra in Erinnerung gerufen werden. Bei anderen sehr wohl. Das ist aber "historisches Bewusstsein". "Folklore" ist im besten Falle historisches Bewusstsein. Ein solches Bewusstsein ist deshalb gut, weil es viele Capoeira noch heute anhaftende Züge von Revolte und Befreiung deutlich macht. (Wäre dem nicht so, so wäre Geschichtsunterricht sinnlos.)

Außerdem fand ich die Geschichte auch fragwürdig, da sie mir wie ein Märchen vorkam, eine Fabel aus der Sklavenzeit (oder in anderen Kontexten: wie die 'Indianer' leb(t)en und ihren 'Regentanz' mach(t)en oder die Afrikaner mit ähnlichen 'Ritualen'), die nichts mit der Realität (damals wie heute) zu tun hat. Der Konstruktivist sagt zwar, dass sich die Kinder eh die Realität selber konstruieren. Doch hierbei tun sie dies nach den alten rassistischen usw. Stereotypen, die sie von zu Hause, aus dem Fernsehen oder aus Büchern haben. Und am besten wetteifern sie noch, wer am besten um das Lagerfeuer tanzen oder das Wild jagen kann.

Stellt der Lehrer somit einen Raum zur Verfügung, in dem die Kinder alle ihre exotischen Abendteuerfantasien ausleben können und sich damit die Images von den wilden, naturalisiert-zurückgebliebenen Afrikanern, 'Indianern' usw. erhalten?

Erstens ist es wichtig, alle Phantasien, Medienhirngespinste und Vorurteile in der Schule zu thematisieren. Szenisches Spiel ist eine effektive Methode dies zu tun. Zweitens jedoch ist die vorliegende Geschichte keineswegs exotisch. Sie kommt in den Medien nicht vor. Sie kommt in keinem Musikbuch vor, Sie kommt nicht einmal in den deutschsprachigen Büchern über Capoeira vor. Diese Geschichte zeigt, dass die schwarzen Sklaven nicht, wie es ein beliebtes Vorurteil sagt, willenlos, ohne Rebellion, still vor sich hin singend und durch Gospelgesänge still gestellt gewesen sind. Sie zeigt, dass sich die schwarzen Sklaven gewehrt haben, dass sie organisiert vorgegangen sind, dass sie sich befreit und als Freie sich verteidigt haben. Die neue schwarze Geschichtsschreibung (im Internet gibt es einschlägige Seiten zur schwarzen Sklavengeschichte in Brasilien) hebt gerade diese Tatsachen als emanzipatorisch hervor. Von Indianer- oder Exotenklischee ist gerade bei dieser Geschichte meines Erachtens keine Rede. Im Gegenteil: diese Geschichte relativiert das übliche Klischee.

Selbst wenn der Lehrer ihnen Fotos, Videos etc. zeigt (welche eh schon aus dem weißen Blick gemacht wurden), wonach sie sich richten können, interpretieren sie diese doch nur nach ihren Vorstellungen von Brasilien /Afrika/... Sollten diese nicht dekonstruiert werden? Wahrscheinlich dienen dazu die Standbilder, die umgestellt oder anders besetzt werden können. Doch ist den SchülerInnen nicht auch bewusst, dass es "nur ein Spiel" ist und es "in Wirklichkeit" eben doch so ist, wie sie es sich vorstellen?

Dies ist die neuralgische Grundfrage der szenischen Interpretation: die dialektische Durchdringung von Spiel und Wirklichkeit. Deine Bedenken sind sehr richtig - aber es gibt auch Erfahrungen, dass dies Problem nicht relevant ist.

Dazu kommen noch die Fragen: Wie geht es dir jetzt? Wie fühlst du dich dabei?... Gibt es vielleicht noch etwas tiefergehendere Fragen? Ich kann mir vorstellen, dass die Antworten doch auch nur "gespielt" sind (wie im 'traditionellen' Unterricht ja auch). Der Schüler sagt "Mir geht es schlecht. Ich fühle mich unterdrückt. usw.", fühlt es aber nicht. Also kann er aufgrund keiner wirklich gemachten, sondern nur gestellten, Erlebnisse auch keine Erfahrungen machen, nichts lernen.

Solche Fragen habe ich im szenischen Spiel immer bekämpft. Besser sind Fragen wie: Warum schaust Du zu Boden? Warum, hältst Du Deine rechte Hand so krumm? usw. Das heißt: der Lehrer/die Lehrerin fragt nach Haltungen und die Schüler/innen sagen, was sie dadurch ausdrücken... (Dies ist eine von vielen Methoden den Psychospielen auszuweichen.)

Wahrscheinlich habe ich jetzt aus der Perspektive: "Wir müssen den Kindern doch was vermitteln und zwar was Richtiges, Wahres" argumentiert und nachgefragt. Allerdings fand ich bei dem Capoeira-Beispiel (und auch aus anderen Eindrücken von szenischem Spiel und Standbildern usw.) das dekonstruktive Moment noch nicht so überzeugend und vor allem nachhaltig. Das 'Sammeln' und Reproduzieren macht immer noch mehr Spaß als das Umdeuten. Oder ist vielleicht auch die von mir intendierte Einstellungsänderung nicht unbedingt im Sinne des Konstruktivismus?

Das vorgeführte Beispiel war eine Aufführung am Ende einer Unterrichtseinheit (die wieder ein Teil von 4 Szene zu Capoeira ist). Es fanden tatsächlich keine szenischen Reflexionen statt, die beim De-Konstruieren nötig sind. Insofern war diese Unterrichtseinheit noch nicht optimal. Kann aber noch werden...

Ich finde gerade weil solche Sklavengeschichten "exotisch" sind und  auf dem Hintergrund kolonialistisch geprägter Images präsentiert, interpretiert und reproduziert werden, sollte man die Finger davon lassen. Ausser man dekonstruiert konkret diese Images. Du sagst, dass dies geschieht, wenn die Schüler erfahren, dass die Sklaven riesige Sozialsysteme haben und dass "Aberglaube" als Selbstverteidigung funktioniert. Es bleibt aber auch hängen, dass es "Aberglaube" und nicht Glaube war. Und auch, dass sie weiter unterdrückte (Ex-)Sklaven waren (nicht selbstbestimmte, freie Akteure), die sich in ihrer Waldhüttensiedlung (nicht Häuser) schätzen und sich Mut ansingen und -tanzen müssen (anstatt über den Widerstand zu triumphieren). Was ich meine ist, dass die Schüler trotz des neuen Settings das alte "Cowboy-und-Indianer"-Spiel spielen, die (für weiße dominante Mehrheiten tollen) Stereotype weiterleben lassen. Ein anderes Beispiel: wenn eine Schwarze Person einer Weißen Person erzählt, dass ein Verwandter beim Sportwettbewerb letzte Woche den Hürdenlauf gewonnen hat, sieht diese Weiße Person innerlich nicht den Sportler auf der Aschenbahn im Sportdress, sondern den"Steppenmann", der im Ziegenfell von "Busch zu Busch" springt. Es sind diese Images, die den eigentlichen Inhalt überlagern. Ich weiß nicht, ob in der "politischen Bildung" das überhaupt geschnallt wird. Dazu kommt, dass die Art der Darbietung des Inhalts bzw. die Aufmachung doch schon Märchencharakter nach "In einem Land vor unserer Zeit" hat, also nichts Greifbares für die Schüler darstellt.

Dazu kann ich nichts sagen, außer dass die Konsequenz ist, dass wir alle die Globalisierung rückgängig machen sollten, mit einem schlechten Gewissen von wegen Imperialismus und Kolonialismus, die wir zwar nicht zu verantworten haben und an denen wir aber nutznießen, in Sack und Asche gehen. Leider nützt das konkret niemandem. Aber die Bedenken sind berechtigt...

Ein weiterer Punkt ist das Ausleben von seinen Fantasien des Fremden mit anschließender. Zur-Diskussionstellung: Was ist daran wichtig und produktiv? Die Kolonialmächte haben lange genug ihre Fantasien ausgelebt und ihre Nachfahren tun dies heute immer noch, nur versteckter. Ist aber trotzdem eher destruktiv. Warum sollen die Kinder das wieder tun? Ist es, damit sie in der Pause nicht auf die Ausländerkinder losgehen (Katharsis)? Oder vielleicht, damit man sich erst mal abreagieren kann, um danach darauf aufbauend die Situation zu analysieren?

Wenn Menschen Phantasien haben und nicht ausleben, so geht das irgendwann nach hinten los, in der Schule meist schon auf dem Schulhof. Aber natürlich: dies ist ein didaktisches Konzept, dass die Lehrer/innen Unbewusstes und Unterbewusstes aufarbeiten sollten und auch aufarbeiten können.

Ein anderes Problem ergibt sich bei "jetzt spielen wir mal fremd": Wie sollen MinderheitenSchülerInnen damit umgehen? Sie können das nicht so einfach spielen, es ist ihr Alltag. Dabei können diese Szenischen Spiele für sie tatsächliche Gewalt bedeuten. Aufgrund ihrer Erfahrungen können sie andere Empfindungen haben, die für andere bloß lustiges Verkleiden darstellt (auch wenn sich die Deutsch-Türkischen Kinder dritter Generation nicht direkt mit Afro-Brasilianischen Sklaven identifizieren können). Ist diese Unterrichtsmethode eine rein Weiße Herangehensweise oder bezieht sie die Schüler"eigenschaften" nur nicht mit ein?
Ich habe den Eindruck, dass nach den Anfängen der IME (Merkt), wo die KlassenkameradInnen mit Migrationshintergrund 'was von zu Hause mitbringen' sollten (also Austausch, Kommunikation und Integration), jetzt die Schüler selbst wieder ausgeklammert werden (subjektlos) bzw. jeder es selbst mit sich ausmach (individualistisch; passt das zum Konstruktivismus??).

Die Gefahr des szenischen Spiels, die Du benennst, gibt es immer, nicht erst und nur bei Kindern unterschiedlichen ethnischen Hintergrundes. Ich weiß noch, dass bei der Besprechung von Armut in Brasilien sich auch Kinder aus dem Kennedy-Viertel "betroffen" fühlten und feststellten, dass sie genau so leben wie "die dort". Szenen aus dem Leben der Kider zu spielen erfordert besondere didaktische Vorkehrungen, ist aber möglich. Die Gefahr, die Du nennst, existiert aber tatsächlich. Aufpassen - und nicht sein lassen, ist dann die Devise.

Und nun noch einmal auf meinen ersten Brief bezugnehmend: Was sagst Du dazu, dass wenn die Erlebnisse, die im Szenischen Spiel gemacht werden, doch nur gespielt sind, dann auch keine wirklichen Erfahrungen im Sinne von Erfahrungslernen stattfinden können? Es bleibt doch nur bei einem "so tun als ob", allerdings auf einer noch viel bewussteren Ebene. Mögliches Fazit für mein Leben nach der Schule: In der Schule wurde doch nur gespielt, nur Show. Hatte mit der Realität nichts zu tun.

Das ist doch auch ein generelles Problem von Schule: inwieweit sie wirklich Ernstfall ist oder doch nur eine "Inszenierung". für Kinder gibt es die Trennung Spiel-Wirklichkeit allerdings noch nicht so stark. Und Vieles, was schulischer Ernst ist, hat auch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Aber, freilich bleibt das Schule-Lebenswirklichkeits-Problem bestehen und ist beim (szenischen) Spielen nicht weg gewischt. Manchmal aber stark gemildert.