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Aus "Das Jazzbuch" von J. E. Berendt (Fassung 2001)
Die Musiker des Jazz
Inzwischen hatte sich in einem jahrelangen Proze� - unbemerkt zun�chst von der Jazz�ffentlichkeit - angebahnt, was die eigentliche Jazz�berraschung der Winter-Saison 1964/65 wurde: John Coltrane hatte sich menschlich und musikalisch der New Yorker Avantgarde angeschlossen.
Im M�rz 1965 spielte er im New Yorker Lokal �Village Gate� in einem nicht nur musikalisch, sondern auch sozial und rassisch programmatischen Free Jazz-Konzert der �New Black Music�, arrangiert zugunsten der Black Arts Repertory Theatre School. Der Direktor dieser Schule, der zornige schwarze Schriftsteller und Dichter Leroi Jones kommentierte: �Trane ist orientalisch - �stlich - in seinem St�ck >Nature Boy< ... eine Friedenssprache ... Wenn er von Gott spricht, begreifst du, es ist ein �stlicher Gott. Allah vielleicht... Dies ist Musik der zeitgen�ssischen schwarzen Kultur. Die Leute, die diese Musik machen, sind Intellektuelle oder Mystiker oder beides. Schwarze rhythmische Energie, Blues-feeling und schwarze Sensibilit�t werden auf die Ebene der Reflexion projiziert ... Du h�rst auf dieser Platte Poeten der Schwarzen Nation ... � Und Steve Young, der �Musikalische Koordinator� der Schule, f�gt hinzu: �Wir m�gen diese Musiker >Die wundersch�nen K�mpfer< oder >Zauberm�nner< oder >Ju-Ju-Leute< nennen ... Magier der Seele. Wenn sie spielen, f�hren sie eine Geisterbeschw�rung von Seelen und Imaginationen auf. Wenn du nicht innerlich bereit bist f�r die L�nder des surrealen Dada � la Harlem, f�r South Philadelphia oder schwarze Georgia-N�chte und n�chtliche Mau-Mau-Attacken, f�r dunkle Schatten auf fliegenden Untertassen und Musik der Sph�ren, dann magst du die Erfahrung, John Coltrane, Archiq�hepp oder Albert Ayler zuzuh�ren, nicht �berleben. Diese Leute sind gef�hrlich, und eines Tages m�gen sie t�ten, indem sie schwache Herzen und korrupte Gewissen dazu bringen, aus dem Fenster zu springen oder schreiend durch ihre zerst�rte Traumwelt zu fliehen ... Diese Musik enth�lt Schmerz und Zorn und Hoffnung... die Vision einer besseren Welt jenseits der gegenw�rtigen ... �
Auf mehreren Plattenalben setzte Coltrane seinen Starnamen ein, um den jungen, unbekannten, kompromi�losen Musikern des Free Jazz zu einem Publikum zu verhelfen. Auch die Aufnahmen, die der Tenorsaxophonist Archie Shepp auf dem New-port Jazz Festival des gleichen Jahres machte, wurde mit einem John Coltrane-St�ck auf Impulse-Platten verbunden. Archie Shepp war dadurch mit einem Schlage bekannt.
Die Instrumente des Jazz
Auch John Coltrane ist auf diesem Instrument [Sopransaxophon] ein Bechet-Sch�ler. Ich (J.-E. B.) wei� dies nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, denn um die Wende der f�nfziger in die sechziger Jahre hatte Coltrane mich mehrfach gebeten, ihm Sopransaxophon-Platten von Sidney Bechet, vor allem aus dessen franz�sischer Zeit, zu schicken, um diese studieren zu k�nnen. Durch sein Solo �ber >My Favorite Things< (siehe das Kapitel �ber John Coltrane) hat Coltrane 1961 das Sopransaxophon mit einem Schlage durchgesetzt.
Coltrane bewahrte die Expressivit�t und die dirtiness Sidney Bechets. Aber an die Stelle der majest�tischen Klarheit, durch die Sidney Bechet an Louis Armstrong erinnert, setzte er die Meditativit�t Asiens. Coltranes Sopran-Ton erinnert an die Shenai der nordindischen, das Nagaswaram der s�dindischen und die Zoukra der arabischen Musik. Sein Sopransaxophon-Spiel verlangt geradezu nach Modalit�t, und Modalit�t wird hier besonders deutlich als das, was sie ist: das Jazz-�quivalent zu den modes der arabischen und den Ragas der indischen Musik.
Ohne Coltranes Sopranspiel ist die ganze asiatische Welle des Jazz nicht denkbar - nicht nur was das Sopransaxophon betrifft, sondern ausstrahlend auf alle anderen Instrumente, vor allem diejenigen, die seit den sechziger Jahren in wachsendem Ma�e erschlossen oder in ihrer Spielweise grundlegend ver�ndert wurden: Geige, Fl�te, Dudelsack, Oboe, Englischhorn etc. Ja, man mu� sagen: Gerade deshalb wurden alle diese Instrumente erschlossen oder ver�ndert, weil Coltranes Sopran-Spielweise das gro�e Vorbild wurde.
Aus: Nada Brahma, Taschenbuchausgabe, S. 204-206
Modale Spielweise und Spiritualit�t
Das neue musikalisch-spirituelle Bewu�tsein �u�ert sich freilich nicht nur insofern, als wir die Musik Asiens h�ren und diese Musik in den Philharmonien Europas und Amerikas erfolgreich geworden ist - noch offensichtlicher wird es in der Tatsache, da� zahlreiche Musiker der westlichen Welt es praktizieren. Der erste war ein Jazz-Musiker, der gro�e 1967 verstorbene Tenor- und Sopransaxophonist John Coltrane. Seine Wirkung strahlte bis in die Rock- und Pop-Musik aus, ja �berhaupt in das Bewu�tsein junger Menschen (auch,wenn viele ohnehin den Namen Coltrane noch nie geh�rt haben). John Coltranes bekanntestes St�ck ist "Love supreme", 1965 entstanden - mit einem Text, den er selbst geschrieben hat. Hier ein Ausschnitt daraus:
"Ich will alles tun, was ich kann,
um Deiner, Oh Herr, wert zu sein.
Alles, was ist, hat mit Dir zu tun,
Danke Dir, Gott.
Gott ist. Er war seit je.
Er wird immer sein.
Worte, Kl�nge, Sprache, Menschen, Erinnerung,
Gedanken, Angst, Zeit:
Es ist alles miteinander verwandt ...
Es ist alles durch Einen gemacht,
Alles in Einem gemacht, -
Gesegnet sei Dein Name.
Gedankenwellen - Herzwellen - alle Schwingungen -
alle Wege f�hren zu Gott. Danke Dir, Gott.
Die Tatsache schon, da� wir existieren,
ist Beweis Deiner Gegenwart, oh Herr.
Gott atmet durch uns so vollst�ndig -
Und doch so zart, da� wir es kaum f�hlen.
Er ist alles, was wir sind.
Danke Dir, Gott ...
M�gen wir niemals vergessen,
Auch im Sonnenschein unseres Lebens,
im Sturm und im Regen:
�berall ist Gott.
Er ist auf allen Wegen und immer da.
Alles Lob sei Dir, oh Gott.
Danke Dir, Gott, Amen."
Man kann heute die revolution�re Bedeutung eines solchen Textes in einem J azz-St�ck kaum mehr nachvollziehen. Denn inzwischen sind wir daran gew�hnt, da� Jazz-Musiker derartige Gedanken �u�ern und Texte dieser Art schreiben und vertonen. Wir haben uns damit vertraut gemacht - eben durch john Coltrane. Vor 1965 ging es in den Texten der St�cke, die man von Jazz-Musikem h�rte, um Liebe, Treue und Lust, und man konnte schon dankbar sein, wenn sie sprachlich einigerma�en in Ordnung waren.
John Coltrane, so der amerikanische Kritiker Ralph Gleason in einem oft zitierten Ausspruch, hat "das musikalische Bewu�tsein der jungen Menschen der westlichen Welt von Amerika nach Asien verlagert". Mittlerweile gibt es ganze Generationen junger Jazz- und Rock-Musiker in den USA und Europa, die - von Coltrane herkommend - die asiatische Musik, vor allem die Indiens, aber auch die der arabischen Welt, so genau - oder fast so genau wie ihre eigene musikalische Tradition kennen und souver�n dar�ber verf�gen.
Das, was all diese Musiker spielen - die asiatischen wie die westlichen -, unterscheidet sich von der traditionellen europ�ischen Musik dadurch, da� es "modal" ist, das hei�t, es basiert nicht auf den st�ndig wechselnden Akkordgeriisten, die unserer abendl�ndischen Musik unterliegen, sondern auf einer Skala,- einer mode - letztlich auf einem einzigen Akkord -, will sagen: es ist sehr viel ruhiger, sehr viel weniger "nerv�s" (wenn ich dieses Wort einmal ohne Wertung, einfach auf das menschliche Nervensystem bezogen, verwenden darf) als unsere Musik, die ja dies eben ist: auf Nerven bezogen. Modale Musik hat mit einer bestimmten geistigen - einer spirituellen - Haltung zu tun. Der deutsche Musiker Karl Berger, der in Woodstock im Staate New York eine bekannt gewordene Schule f�r "Weltmusik" leitet, sagt: "Modal spielen ist eben nicht nur modales Spielen. Du kannst nicht einfach anstelle der bisherigen Akkordger�ste modale Skalen verwenden und dar�ber improvisieren und glauben, da� auf diese Weise sinnvolle Musik entstehen kann. Wenn du nicht anders d e n k s t, dann entstehen nur Et�den."
Als ich bei einem Symposium in Washington �ber den kulturellen Beitrag Amerikas in der Welt die Diskussion auf das Thema der Modalit�t in der heutigen amerikanischen Musik lenkte, stand der schwarze Tenorsaxophonist Nathan Davis, Universit�tslehrer an der Pittsburgh University, auf und sagte: "Modal Spielen hat mit Spiritualit�t zu tun, - und was wir wirklich meinen, wenn wir Spiritualit�t sagen, das ist Religiosit�t. Wir verwenden nur nicht dieses Wort, weil wir nicht das meinen, was die christliche Welt unter Religiosit�t versteht."
Was junge Musiker heute unter Spiritualit�t verstehen, wird in dem Text von John Coltrane, den ich zitiert habe, beispielhaft deutlich. Es gibt diese Spiritualit�t inzwischen in vielen Arten westlicher Musik, l�ngst auch au�erhalb des Jazz, - zum Beispiel im Rock. Als Beispiel sei Santana, die Gruppe eines in San Francisco lebenden Gitarristen mexikanischer Abstammung, genannt. Eines seiner erfolgreichsten Werke hei�t "Caravanserai" und Santana hat deutlich gemacht, da� die "Karawanenreise", von der die Musik handelt, ein Gleichnis ist f�r eine Reise der Seele in neues, noch unerschlossenes Land. Es ist auff�llig da� es solche "Seelenreisen" seit der zweiten H�lfte der sechziger Jahre immer h�ufiger in der westlichen Musik gibt. Der Jazz-Musiker Wayne Shorter sagt von seiner "odyssey of Iskra": "Das St�ck handelt von der Odyssee eines westafrikanischen Odysseus namens Iskra. Vielleicht kannst du diese Musik auf die Reise deiner eigenen Seele beziehen."
Ekkehard Jost: Free Jazz (1975), S. 22
Wo die Motivationen zur Einf�hrung der modalen Spielweise zu Ende der 5oer Jahre lagen, ist im Nachhinein nicht mit Sicherheit zu kl�ren. Unwahrscheinlich ist es, da� sie aus einem direkten Bezug auf die Tradition der fr�h-europ�ischen Kirchent�ne oder antiken Modi erwuchs; ebenso unwahrscheinlich, da� indische Raga-Modelle als Vorbild dienten, denn von dem Trend zur Orientierung an exotischen Musikgattungen, der sich wenige Jahre sp�ter zu einer Mode auswachsen sollte, war in den Endf�nfziger Jahren noch nichts zu ahnen. Nur sehr wenige Musiker bezogen sich zu dieser Zeit bewu�t und mit programmatischem Engagement auf die Musik des Orients. Die Entwicklung der modalen Spielweise indessen hatte nichts Programmatisches; sie ergab sich wie von selbst in einem Stadium der Jazzgeschichte, wo die Determiniertheit des harmonischen Ger�stes eine fortw�hrende Re-Interpretation der inzwischen erarbeiteten Ausweitungen von althergebrachten Mustern mit sich brachte.
Berendt: Der Jazz und die Neue Religiosit�t (1978)
Es scheint, dass christliche Religiosit�t im Jazz-Concerto all dieser geistlichen Str�mungen eine verh�ltnism��ig geringe Rolle spielt. Gar zu viele jungen Musiker sind in jener Perversion christlicher Lehre aufgewachsen, deren Reizworte S�nde, Tod, Leiden lauten, und hatten dar�ber vergessen, was Religiosit�t wirklich bedeutet: Begl�ckung, Einswerden, Selbstverwirklichung, sch�pferische Befreiung. Das "Love Supreme" des Jazzsaxophonisten John Coltrane - das jazzmusikalische Hauptwerk der ganzen Bewegung - ist zwar von der kosmischen Alles- ist-Eins-Religiosit�t des Buddhismus und Hinduismus inspiriert, aber der pers�nliche Gott des Christentums scheint an zahlreichen Stellen des Textes unmi�verst�ndlich durch (S. 29).
Aufschlu�reich ist in diesem Zusammenhang ein Ausspruch Ravi Shankars: "Die Situation, die ich heute vorfinde, ist anders als die vor f�nf oder zehn Jahren. Es gibt eine gro�e Gruppe von Leuten, die technisch gewi� nicht alles verstehen, die aber das Gef�hl f�r indische Musik besitzen... Zuerst waren es die Jazzmusiker und die Jazzfreunde. Sie sprangen in die indische Musik wie ein Fisch ins Wasser. Indische Musik war f�r sie etwas Nat�rliches - mit ihren Improvisationen, ihren aufregenden Rhythmen und all dem anderen" (S. 34).
Es ist auff�llig, da� sich unter den genannten Jazzaufnahmen aus der ersten H�lfte und der Mitte der sechziger Jahre [mit Religions-Bezug] keine einzige eines europ�ischen Musikers befindet. Innerhalb des Jazz ist die Neue Religiosit�t vorwiegend ein Anliegen amerikanischer Musiker (S. 35-36).
Die sch�pferischen Kr�fte, die im Jazz der letzten anderthalb Jahrzehnte freigesetzt wurden - Kr�fte, die alle Kategorien und Stil-Vorstellungen sprengten, in die Jazz bisher eingebunden war -, stammen bei der Mehrzahl der Musiker, die in dieser Entwicklung Rang und Bedeutung besitzen, aus ihrer Religiosit�t. Nicht zuletzt deshalb sprechen so viele Musiker in den Interviews und Gespr�chen ... von Religion, wenn sie �ber Musik befragt werden: Religion verstanden als Quelle von Kreativit�t (S. 43).