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Vortrag auf der Tagung "Populäre Lieder. Kulturwissenschaftliche Perspektiven" am 5.10.2007 in Basel, gedruckt in "Ewigi Liäbi. Singen bleibt populär", hg. von W. Leibgruber u.a. Waxmannverlag Münster 2009. In diesem Votrag bzw. dem vorliegenden Text verknüpfe ich die Tätigkeitstheorie mit zwei Forschungsergebnissen: zur Guantanamera und zu Tarantella.

Singen als Aneignung von Wirklichkeit

Ein tätigkeitstheoretischer Baustein zur Theoriebildung

Der folgende Baustein zur  Theorie des Volks- oder populären Liedes zu Beginn des 21. Jahrhundert bezieht sich auf Lieder, die folgende Bedingungen erfüllen:

Die Psychologie musikalischer Tätigkeit ( 1), die als theoretischer Rahmen meines „Bausteins“ verwendet wird, fordert darüber hinaus,

Als Qualitätskriterium für eine solche Aneignung von Wirklichkeit hat die klassische  Tätigkeitstheorie (nach Engels, Rubinstein und Leontjew – tendenziell auch Steinitz) Kategorien wie „gesellschaftlicher Fortschritt“ oder  „im Dienste des werktätigen Volkes“ eingeführt. Eine aktuelle Weiterentwicklung dieser Kriterien, die vor allem für den aktuellen Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland relevant geworden ist, besagt, dass das Singen eine

Aneignung von Wirklichkeit sein soll. Jede Musik, mit der Menschen  passiv, fremdbestimmt, unbewusst oder sozial unverträglich umgehen, erhält nicht das tätigkeitstheoretische Qualitätssigel. Das wären u.a.  die meisten Popsongs, die Inszenierungen der „Volkstümlichen Hitparade“ oder die Realisierungen von Volksliedern als eines im Studio ausgearbeiteten Hits, dessen Melodik sich einer indigenen Melodie oder dessen Arrangement sich ethnischer Samples  (Throatsinging, Jodeln, Joiken usw.) bedient.
Die Frage der Tagung, welche Konzepte und Definitionen „von ‚Volksliedern‘ und populären Liedern [...] in unserer heutigen (medialisierten) Zeit am besten geeignet“ sind ( 2), führt über die genannten Definitionen hinaus zu folgender These:

Eine aktive, bewusste, selbst bestimmte und soziale Aneignung von Wirklichkeit ist nur möglich, wenn sich die musikalische Praxis in Wechselwirkung mit der medialen und „globalen“ Vergegenständlichung der die Tätigkeit konstituierenden Handlungen weiter entwickelt. „Reine“ musikalische Praxis ohne eine solche Wechselwirkung oder gar als „Gegengift“ zur Medienrealität kann sich nicht mehr die heutige gesellschaftliche Wirklichkeit aneignen und erfüllt damit ebenfalls das tätigkeitstheoretische Qualitätskriterium nicht.

Mein „Baustein“ zur Theoriebildung besteht also aus einer dreischichtigen „Definition“ in Verbindung mit einer These. Definitionen kann man plausibel machen und deren Nützlichkeit erproben. Dies soll im Folgenden entlang von zwei Beispielen geschehen. Die These müsste empirisch bewiesen werden. Dies kann ich nicht leisten. Auch hier muss ich es bei einer Plausibilitätserklärung belassen.

Beispiel 1

Die Guantanamera ( 3),  von der Radio-Nachricht zum National-Symbol.

Der Kubaner Joseíto Fernández sang 1976 eine „Guantanamera“ im Leninpark in Havanna ( 4). Diese Aufnahme unterscheidet sich signifikant von dem bekannten Folk-Song  Guantanamera.

Die 5. Décima lautet:

Yo puedo cantar aquí
aquí como donde quiera
guajira guantanamera
que es limpia como Martí.
No hay un sólo acto en mi
que aminore la valia
la gran honradez y hombría
ambas virtudes muy grandes
de Joseíto Fernández
el rey de la melodía.
Guajira Guantanamera!

Ich kann hier singen,
hier und wo auch immer,
die „Guajira Guantanamera“,
die so rein ist wie Martí.
Es gibt keine einzige Handlung von mir,
die meinen Wert herabsetzt,
die Erhabenheit und Rechtschaffenheit,
beides große Tugenden
von Joseíto Fernández;
dem König der Melodie.
Guajira Guantanamera!

Vergleichbares mit dem bekannten Folk-Song:

  1. Das Guajira-Modell (Notenbeispiel unten),
  2. Text des Refrains „guajira guantanamera“,
  3. der Gestus des Refrains (bei unterschiedlichem Tonhöhenverlauf).

Unterschied zum bekannten Folk-Song:

  1. Der Melodieverlauf  von Strophe und Refrain,
  2. die Anzahl und Struktur der Strophenzeilen,
  3. der rezitativische Gestus der Strophe.

Ein "Son Cubano" oder "Punto Cubano" von La Palma, wie heute "Verseadores" in Tijarafe singen und improvisieren:

Die Fassung der Guantanamera von Fernández ist das Ergebnis eines mehrstufigen Medialisierungs- und Globalisierungsprozesses einer heute noch auf La Palma ausgeübten Décima-Improvisationspraxis ( 5), der als eine sich weiter entwickelnde Art von Wirklichkeitsaneignung interpretieren lässt:
 In den Jahren 1929-35 improvisierte Joseíto Fernández im Rundfunk CMQ/Havanna innerhalb der täglichen ( 6) Crónica Roja auf das Guajira-Modell und sang dazu den Refrain „Guajira Guantanamera“, der zu einem geflügelten Wort für „schlechte Nachricht“ wurde ( 7). Dies war eine aktive („Improvisation“), bewusste („selbst gemachte Texte über Tagesereignisse“), selbstbestimmte („politisch subversiv in der Crónica Roja“) und soziale („solidarisch mit den kleinen Leuten“) Aneignung von Wirklichkeit mit musikalischen Mitteln.

Guajira-Modell aus Kuba (Guarija Guantanamera)

Guajira-Modell des Beispiels aus La Plama (auch in 6/8 möglich)

Nach der kubanischen Revolution sang Pete Seeger  am 8.6.1963 erstmals eine Guantanamera mit dem uns heute bekannten Text und Melodieverlauf in der Carnegie-Hall. Der Text war den Versos Sencillos des kubanischen Freiheitskämpfers José Martí  entnommen, auf dem LP-Cover steht „J.-Martí-adaption by H. Angulo & P. Seeger“ ( 8). Pete Seeger eignete sich die neue politische Wirklichkeit, in der „Kuba-Solidarität“ gefragt war, musikalisch an. Dabei wurde die ursprüngliche  Décima-Improvisationspraxis zum Polit-Song vergegenständlicht und musikalisch geglättet.

Cover der LP des Seeger-Konzerts vom 8.6.1963

Nach der durch Pete Seeger erfolgreich betriebenen „Globalisierung“ der Guantanamera als Polit- und später Folk-Song, erklärte sich Joseíto Fernández zum „Komponisten“ der Guantanamera  und sang gegen Ende seiner musikalischen Laufbahn seine ursprünglichen Décima-Improvisationen als „Lied“, das auf Schallplatte eingespielt und GEMA-pflichtig wurde ( 9). So kam  die anfangs wieder gegebene Musik zustande.  Jetzt eignete  sich Fernández die neue Wirklichkeit und Daseinsform der Guantanamera  als eines internationalen Solidaritätsliedes mit Hilfe seiner ursprünglichen musikalischen Mitteln auf neuer Stufe an ( 10). Er sang die alten Décimas und nannte sie aber genauso wie Pete Seegers Folk-Song ein „Lied“.
Als Ergebnis dieses Prozesses wurde die Guantanamera zum „internationalen“ Nationalsymbol des ökonomisch vom Westen isolierten Kuba. Sie blieb dies auch, nachdem der Mythos der Urheberschaft von Fernández Ende der 90er-Jahre von Maria Angelia Vizcaíno an einem prominentem Ort im Internet „enttarnt“ worden ist ( 11)  und die Guantanamera als vergegenständlichte Form einer volkstümlichen Improvisationspraxis explizit als erwiesen galt.

Die Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Situation Kubas von 1929 bis heute hat zur Folge, dass die aktive, bewusste, selbstbestimmte und soziale musikalische Aneignung dieser Wirklichkeit zu einer Vergegenständlichung der musikalischen Praxis auf dem Umweg über Medialisierung und Globalisierung führt und sich politisch „auflädt“. Aus einer Praxis, die sich auf der Ebene eines Bonmots „ Guantanamera“ für „traurige Nachricht“ abspielt, wird das Nationalsymbol eines um seine Identität kämpfenden Landes. Durch all‘ diese Prozesse hindurch bleibt dabei die Guantanamera das, was wir intuitiv und gefühlsmäßig Volks- und populäres Lied nennen würden. Die Aneignungstheorie entspricht auf wissenschaftlicher Ebene genau dieser Intuition und diesem Gefühl.

Beispiel 2

Kali Nifta, die vier „Daseinsformen“ von Tarantella und die „Salentinische Hymne“

Seit einigen Jahren gibt es in Apulien (Süditalien) ein Revival der Pizzica Tarantula. Die Tradition der auf dem Triolen-Rhythmus einer Tamburello basierenden Tarantella-Lieder lebt heute in 4 „Daseinsformen“ gleichzeitig:

Erstes Dasein: Einige sehr alte Personen und Objekte musikethnologischer Begierde beherrschen die traditionellen Tarantella-Lieder, das Tamburellospiel und kennen noch die zugehörige Trance-Heilungs-Praxis ( 12).

Zweites Dasein: Folkloregruppen spielen die traditionelle „Pizzica Tarantula“ bei Dorffesten. Kinder, die das Tamburellospiel in Musik-AG’s der Schule gelernt haben, spielen mit, Teenager und Erwachsene vollführen mehr oder weniger authentische folkloristische Tarantella-Figuren. Zum Beispiel: das Dorffest in Taurisano am 25.9.2004 wurde von der „Alleanza Nazionale“ organisiert ( 13). Dies zweite Dasein ist also politisch ambivalent, wenn nicht eher rechts einzuordnen. Es hat wenig mit der Trance-Praxis zu tun und knüpft an die folkloristische Variante von Tarantella an

Bühnen-Deco des Konzerts der „Alleanza Nazionale“

Drittes Dasein: Nach kleinen Anfängen 1998 hat sich nördlich von Lecce die „Notte della Taranta“ als 14-tägiges Festival zu einem Event gemausert, an dem 100 000 Jugendliche teilnehmen. An unterschiedlichen Orten werden Konzerte (wie in Taurisano) veranstaltet. Den Abschluss des Festivals bildet ein Großkonzert, das sich von üblichen Groß-Rockkonzerten kaum unterscheidet ( 14).  Hier wird ganz offensichtlich die Eigenschaft von Tarantella, heilende Trance-Induktion zu bewirken, auf neuem und expandierten Niveau reaktiviert.

Das dritte Dasein ist sehr rührig: Zum Erhalt der verfallenen Kult-Chiesetta in Galatina wurde ein Förderverein gebildet. Eugenio Bennato gründete 2000 das Projekt „Taranta Power“,  das 2002 sogar auf dem TFF in Rudolstadt auftrat und zeigt, dass die Attraktion der Pizzica Tarantula auf ihrer Nähe zu Techno beruht ( 15). Es wurde ein Lehrbuch für das Tamburellospiel herausgebracht ( 16), traditionelle Lieder wurden transkribiert ( 17), CD’s in großer Anzahl produziert – und alles wird in Otranto in einem Spezialgeschäft angeboten. Im Zentrum des Geschehens stehen Ethnologen und Volkskundler, die - wie die auch in Deutschland bekannte Giovanni Marini ( 18) - Lieder sammeln, die Tradition des spezifischen Gesangsstils vermitteln und dokumentierte CD’s herausgeben.  

Melpignano 2007: Tonangebend die Tamburellos

Von Anfang an um musikalische „Globalisierung“ bemüht, expandiert die Bewegung auch nach Norditalien, beispielsweise auf das „Sud Sud Festival“ in Mailand, wo wichtige Pizzica-Folkloregruppen sowie (2005) das „Orchestra Notte della Taranta“ aus Melpignano auftreten. Programmatisch heißt es seit 2003:

„La Notte della Taranta è il più grade festival musicale dedicato al recupero della pizzica salentina e alla sua fusione con altri linguaggi musicali che vanno dalla world music al rock, dal jazz alla sinfonica.“

Das vierte Dasein der Tarantella sehen wir in den Schluss-Sequenzen des Filmes Sibilo Lungo Della Taranta. Diese Aufnahmen stammen vom Regisseur Paulo Pisanelli, der das Festival von Melpignano dokumentieren und in den Kontext von lebendigen Volkstraditionen stellen wollte.  Dabei gelangen ihm einige zwar gestellte, im Kern jedoch durchaus glaubwürdige Aufnahmen, die zeigen, wie die Generation der Nicht-mehr-Jungen das Festivalgeschehen am Fernsehbildschirm wohlwollend verfolgt und sich sogar bemüßigt fühlt, mit zu tanzen – ganz zum eigenen Amusement.
Seit 2004 hat sich beim Festival „Notte della Taranta“  das Lied Kalinifta als Abschlusslied „eingenistet“. Der „Maestro“ Mauro Pagani  bezeichnet 2007 Kalinifta als „l’inno della Grecia Salentina“ (die griechisch-salentinische Hymne) ( 19).  Der bereits erwähnte Film  zeigte, wie es gesungen und der Refrain vom Publikum geradezu zelebriert wird. Das Lied des Dichters Vito Domenico Palumbo (1854- 1918) hat aber keinerlei  Züge einer Pizzica Tarantula oder Tarantella: die Strophen sind  sentimental-melodiös und nicht, wie bei Pizzica Tarantula üblich, rufend-rezitativisch, der Refrain ist eher osteuropäisch als italienisch, er wird ohne Tamburello mit dem für Osteuropa typischen Accelerando gesungen und von einem schnellen Off-Beat, wie ihn die Zigeunermusik kennt, begleitet. Es fehlt der schnelle Triolenrhythmus. Der Text des Liedes jedoch ist in „Griko“, einem süditalienischen Dialekt, der zusammen mit dem Tarantella-Revival wieder „in“ ist und den engagierte Jugendliche mühsam in Workshops lernen ( 20).

3. Strophe: (Kali nifta = griech. Kali nichta)

Kali nifta se finno ce pao
plaia 'su ti vo pirda prikò
ma pu pao, pu sirno pu steo
sti kkardia panta sena vastò.

Larilò larilò lallerò, larilò larilò llà llà......

Gute Nacht, ich verlasse dich und gehe.
Schlafe, während ich traurig gehe,
aber wo immer ich gehen und stehen werde,
werde ich dich stets in meinem Herzen halten.

Es ist für die dritte und vierte Daseinsform der Tarantella charakteristisch, dass die authentische Form der Tarantella kein entscheidendes Kriterium mehr dafür ist, dass ein Lied unter „Tarantella“ subsumiert und somit tendenziell zur Trance-Induktion verwendet wird. Die Fremdartigkeit der Sprache, die Bekanntheit des Liedes (jenseits von Tarantella), die Singbarkeit des Refrains sowie die Tatsache, dass derartige Refrains  in der medial-globalisierten Musikwelt einen Mitmach-Archetypus darstellen, genügen, damit Kalinifta in ein modernes Tarantella-Ritual einbezogen werden kann.

Medien

Erste orale Tradierung mit Unter-stützung durch Liederbücher
Vermittlung in Workshops durch Volkskundler (mediale Sammeltätigkeit)
Festivalkultur: überregionale Verbreitung, Fusion/Globalisierung
Verbreitung: CD, DVD, Film, TV, Internet (Text + Übersetzung)
Rezeption zu Hause vor dem TV

Musik und Text

Komponiertes Griko-Lied um 1900 (Stil: italienisch/balkanisch)
Verwendung aufgrund der Sprache 2004 in der Notte della Taranta
Weiterentwicklung u.a. wegen Mitklatsch-Archetypus
 
Rudimentärer Tarantella-Tanz vor dem TV

Wirklichkeit


Volkslied einer „vergessenen“ Kultur
Entmystifizierung der Trance-Taranella wegen verbesserter psychosozialer Versorgung
Nord-Süd-Gefälle in Italien führt zu ethnischem „Seperatismus“
Verknüpfung mit neuen Bedürfnissen nach Trance (Jugendkultur)
Inszenierte Rückerinnerung mit Spassfaktor

Es ist einfach zu rekonstruieren, welche Wirklichkeit auf den 4 Daseinsformen der Tarantella und in diesem Kontext das  „Griko“-Lied Kalinifta angeeignet wird. Die erste Stufe ist getragen von der Volkspraxis „Veitstanz“, die in Süditalien außerhalb der Kirche verbreitet und teilweise auch erfolgreich war. Sie hat sich heute bei erheblich verbesserter psychosozialer Versorgung der Bevölkerung überlebt. In das Vakuum springen auf der einen Seite reaktionäre Ideologien, die in harmlosen Dorffesten dem Freizeitbedürfnis der Menschen entgegen kommen und dazu ebenso harmlose Folkloregruppen engagieren. Auf der anderen Seite füllen Volkskundler und aktiv um ethnische Identität besorgte „Opinion Leader“  dies Vakuum aus mit Workshops, Festivals und einer durchaus tendenziösen medialen Aufarbeitung, die auf „Globalisierung“ abzielt. In ihrem Bemühen nach „Authentizität“  revitalisieren die Festival-Veranstalter die alte „Trance-Tradition“ der Tarantella auf einem „globalen“ Niveau: 100 000 hüpfende Menschen und ausgedehnte Musiknummern, die im Ohr liegen und an den (weltweiten) Mitklatsch-Archetypus anknüpfen.

Die Rückbindung dieser globalen Festival-, Tanz- und Trance-Form an die älteren Menschen, die sich noch vage der ursprünglichen Tarantellatradition erinnern, geschieht auf dem Weg über die Medien oder die Feldforschungsaktivitäten eines Film-Regisseurs. Als nicht-italienischer Musikwissenschaftler kann ich meine sporadischen touristischen Eindrücke vor Ort durch die breit angelegte Medienarbeit der Teilnehmer/innen ergänzen. So konnte ich die „Tradition“ von Kalinifta seit 2004 über Youtube sehr gut verfolgen. Vom Festival, das im August 2007 stattfand, gab es im Mai 2008 186 informativer  Videoclips.

Fazit

Die Beispiele zeigen, wie sich das Singen als musikalische Praxis und als Aneignung von Wirklichkeit durch die Wechselwirkung mit den Medien weiter entwickelt und lebendig bleibt. Das Singen ist keine Gegenwelt zu den Medien oder zur Globalisierung.
Die Weiterentwicklung im Falle Guantanamera bestand in der Tatsache, dass eine geografisch und vom politischen Wirkungsradius aus betrachtet eng umgrenzte vokale Improvisationspraxis zum Nationalsymbol geworden ist. 
Im Falle von Kalinifta hat ein traditionelles Lied in einer fast verschwundenen Sprache sich das Tarantella-Revival, das eine anachronistisch gewordene Trance-Praxis (Veitstanz) in eine globale Trance-Praxis (Festival- und Technokultur ) verwandelt hat, zu Nutze gemacht. Der „Mitklatsch-Archetypus“ dürfte dabei eine ebenso große Rolle gespielt haben wie das Streben von Ethnologen nach „Authentizität“.
 Das Dorffest der „Alleanza Nazionale“ in Taurisano und die „Notte della Taranta“ in Melpignano zeigen zwei unterschiedliche Möglichkeiten, wie Wirklichkeitsaneignung stattfinden und sich entwickeln  kann. In Taurisano hat die „Alleanza Nazionale“ sich der Dorfkultur angenommen, Tarantella von der folkloristischen Seite her aufgegriffen und eine Medien-Gegenwelt inszeniert. In Melpignano fand eine Neuauflage  der Trance-Tarantella statt, die sich im Streben nach musikalischer „Globalität“ aller nur denkbaren Potentiale der Massenmedien bediente. Wie schon seit eh und je: Volks- und populäre Lieder können politisch reaktionär oder progressiv verwendet werden. Das tätigkeitstheoretische „Qualitätssigel“ erhält die reaktionäre Verwendung jedoch nicht von vornherein, da hier die Kriterien „bewusst“ und „selbst bestimmt“ nicht zwingend zutreffen. Wie es mit diesen Kategorien in Melpignano bestellt ist, wäre ebenfalls einer empirischen Studie wert. Zwischen einerseits den Ausführenden und Workshopteilnehmern  und andererseits den 99 000 Abschlusskonzertteilnehmern müsste unterschieden werden, was auch in Taurisano bezüglich der mitwirkenden Kinder der Fall ist.
Die tätigkeitstheoretische Betrachtung erfordert meist weiter gehende Untersuchungen als eine bloße Beschreibung und Ist-Zustands-Bestandsaufnahme. Das ist ihre Stärke und, weil hierdurch eine Wertung impliziert ist, auch ein Grund dafür, dass sie oft als anstößig gilt.

Zitierte Literatur

Díaz, José Carlos Delgado: El Folklore Musical de Canarias. Publicaciones Turquesa, S.L., Santa Cruz de Tenerife 2004.
Chiriatti, Luigi und Maurizio Nocera: Immagini del tarantismo. Capone Editore, Lecce 2004 [Bildband].
Fumarola, Piero: Della danza delle identità. In: Neotarantismo, hg. von Anna Nacci. Stampa Alternativa/Nuovi Equilibri, Viterbo 2004, S. 161-191.
Herlinghaus, Hermann: Joseíto Fernández. Interview aus dem Jahr 1976 in Havanna. In: Cantaré. Songs aus Lateinamerika. Weltkreis-Verlag, Dortmund  1978, S. 333-334.
Inchingolo, Ruggiero: Luigi Stifani e la pizzica tarantata. BESA editrice, Nardò o.J. (frühestens 2000).
Mangia, Maurizio: Metodo per tamburello. La pizzica. BESA editrice, Nardò o.J. (ca. 2003).
Sorrentino, Wenke und Wolfgang Martin Stroh: „Te Pizzicau“ von Santu Paulu. Szenische Interpretation von „Tarantella“. In: Grundschule Musik 41, 1/2007, S. 13-20.
Stroh, Wolfgang Martin: Leben Ja. Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit. Marohl-Verlag, Stuttgart 1984. Vergriffen. Komplette Online-Version (kostenpflichtig) über: www.lugert-verlag.de.
Stroh, Wolfgang Martin: „Mein Herz ist wie ein verwundeter Hirsch“. In:  versa. Zeitschrift für Politik und Kunst 4/2004, S. 42-49.
Stroh, Wolfgang Martin: Was hat die „Guantanamera“ mit den Taliban und El Kaida zu tun? In: Musik in der Schule 2/2002, S. 11-18.
Vizcaíno, Maria Argelia: Origen de La Guantanamera. http://www.josemarti.org/jose_marti/ guantanamera/guantanameraintro.htm (download 3.10.2007).  

Fussnoten

 1 Stroh 1984.

2 Aus den „Leitfragen“ der Tagungsleitung vom 5.3.2007.

3 „Guantanamera“ = „die aus Guantánamo stammende“ [Frau]; „guajira“ = Bäuerin [sowie Bezeichnung für einen Tanzschritt und ein Harmonie-Modell aus Guantánamo bzw. von den Kanarischen Inseln].

4 Aufnahme einer historischen LP von Carola Schormann in Kuba überspielt.

5 Siehe Díaz 2004, S. 89 und 102. Das 37. „Festival de Punto Cubano“ in Tijarafe (La Palma), in dem Décima-Wettstreite ausgetragen werden, fand am 3.9.2007 statt. (Tonbeispiel aus der CD Antología del Punto Cubano. Los Verseadores Canarios, hg. von José Luis Martin Teixé. Centro de la Cultura Popular Canaria. Tenerife. CD 1/track4: „Controversia Bernardo/Lalo vom 28.8.1997 in Mazo. )

6 Ab 1933 täglich.

7 „Este programa se hizo tan popular, que el pueblo, adoptó la frase me cuantó una Guantanamera, para referirse a alguien que viene a contarnos algo triste y penoso“ (www.josemarti/tema/guantanamera.htm, download 1.5.2004 – am 3.10.2007 nicht mehr vorhanden. Die Aussage deckt sich mit einem Brief des Komponisten Carlos Fariñas an den Autor vom 18.1.2002, der die Crónica Roja in jungen Jahren gehört hat): „dies Rundfunkprogramm  war so populär, dass die Leute  den Satz ‚mir wurde eine Guantanamera gesungen‘ verwendeten, wenn ihnen eine Person eine sehr traurige Nachricht überbracht hatte“.

8 Pete Seeger Live Concert. Featuring We Shall Overcome. Embassy EMB 31115. CBS 1967.

9 Allerdings erst nach einem Rechtsstreit der Erben 1985 bei der SGAE (= spanischer GEMA).

10 Herlinghaus 1978, S.334.

11 Maria Argelia Vizcaino: Origen de La Guantanamera. Seite der Martí-Gesellschaft. http://www.josemarti.org/jose_marti/ guantanamera/guantanameraintro.htm (download 3.10.2007). Ausführliche Dokumentation zahlreicher Erwiderungen auf diesen Aufsatz unter http://www.mariaargeliavizcaino.com/M-Guantanamera.html (download 3.10.2007). Deutsche Dokumentation und Interpretation dieses Prozesses: Stroh 2004.

12 Vgl. Zum Beispiel den 90-jährigen Cosimino Surdo im  „Arbeitsmaterial“ zum Film Sibilo Lungo Della Taranta von Paulo Pisanelli.  Produzione BigSur, archivio cinema del reale 2006. – Weitere Film-Dokumentationen traditioneller Tranceheilungen: Eduardo Winspeare: Pizzicata.  [Spiel-] Film/Anima Mundi. Otranto 1996. - Eduardo Winspeare und Stefanie Kremser-Koehler: San Paolo e la Tarantola. [Dokumentations-]Film/Anima Mundi. Otranto 1991. – Chiriatti/Nocera 2004.

13 Feldaufnahmen des Autors vom 25.9.2004. © iii-twiskenstudio oldenburg.

14 Sibilo Lungo Della Taranta von Paulo Pisanelli.  Produzione BigSur, archivio cinema del reale 2006.

15 WDR 3 OPEN am 17.12.2002 (Sendung „Tarantella Trance“ von Marina Collaci).

16 Mangia 2003. 

 17 Inchingolo 2000.

18 Il Salento di Giovanni Marini. Edizioni Aramirè. Lecce 2004.

19 Booklet der CD/DVD „La Notte della Taranta“. Live in Melpignano 17 08 2003. ponderosa music&art 2004. Gleichlautend in der Presseerklärung 2007 (www.lanottedellataranta.it/pressekit/cartella_stampa.doc, download 3.10.2007).

20 Presseerklärung für Melpignano 2007.

21 Maestro Mauro Pagani spricht von „sirtaki“, was aber beim „Orchestra Notte della Taranta“ nicht zu hören ist.