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Ist die Soundscapebewegung ein Revival der Auditiven Wahrnehmungserziehung?

Wolfgang Martin Stroh: Vortrag Symposion „Ulrich Günther 75", 8.11.98. - Bilder fehlen in dieser online-Version!

Intro: 4 Spots

Spot 1

Vor 15 Jahren haben Fred Ritzel und ich ein Buch zu Ehren Ulrich Günthers herausgegeben. Meine Intention war damals, den Jubilar an sein Konzept der Auditiven Wahrnehmungserziehung (Bild) zu erinnern, das er, meines Erachtens vollkommen zu Unrecht, schnöde ad acta gelegt hatte. [Zitat aus FS Günther, Seite 9-10. Genauer: Günther hat nie an der Bedeutung des Ansatzes gezweifelt, war aber der Meinung, der Ansatz habe die MusiklehrerInnen überfordert und sei daher an der Schulwirklichkeit gescheitert.] Wenn ich heute wieder und nochmals auf die Auditive Wahrnehmungserziehung zu sprechen komme, so greife ich meine damaligen Bemühungen wieder auf. Und zwar nicht nur deshalb, weil mein damaliger Ruf ohn’ Antwort verhallt ist. Sondern weil trotz des „musikpädagogischen Paradigmenwechsels", der sich inzwischen in unserer Zunft abgespielt hat, die Auditive Wahrnehmungserziehung von einer Gruppe von Menschen re-aktiviert wird, die sich dessen gar nicht bewusst sind. Da vielleicht einige von Ihnen diese Menschengruppe auch noch nicht genau kennengelernt haben, möchte ich Sie heute mit ihr und ihrer Arbeit vertraut machen.

Spot 2

Im vergangenen Semester habe ich zusammen mit Thomas Münch und Hans Ulrich Werner - letzterer vom Studio für Klangdesign des WDR Köln - ein Projekt zum Thema „Soundscape" durchgeführt. Anlaß war die Tatsache, dass uns das Phänomen „Soundscape" aus drei unterschiedlichen Richtungen entgegengekommen war:

mir war es im Sinne des „akustikökologischen Sektors" der New Age-Musikszene bekannt,

mein Kollege Thomas Münch hantierte als Radio-Theoretiker mit dem Begriff im Sinne eines neuen Ansatzes unkonventioneller Radiomacher,

Hans Ulrich Werner (Autor des ersten deutschsprachigen Soundscape-Buches) arbeitete am WDR im Dunstkreis des Elektronischen Studios und des Studios für akustische Kunst und nannte seine Produktionen nicht mehr „Hörspiel" oder „Komposition", sondern „Soundscape".

Spot 3

Aus Anlaß der Vorbereitung des Soundscape-Projektes besuchte ich im April ‘98 Justin Winkler (Bild) in Basel, den Vorsitzenden der Deutschen Sektion des Worlds Forum for Acoustic Ecology und den Herausgeber der „New Soundscape Letters". Herr Winkler ist Leiter des Schweizerischen Volksliedarchivs und hatte soeben ein Forschungsprojekt hinter sich gebracht, in dem er ein Archiv mit „Soundscapes" schweizerischer Alpentäler angelegt hatte. Das Projekt geht auf eine These Murray Schafers zurück, wonach jede Landschaft ein eigentümliches Klangbild besitze, das beim Heimat-Gefühl der dort lebenden Menschen eine Rolle spiele.

Winkler erstellte 24-stündige Aufnahmen ausgewählter Orte eines Alpentals und schnitt diese dann zu 10-minütigen Soundscapes zusammen: Hörbeispiel („Tageslauf Lourtier/Schweiz" von Justin Winkler und Claudia Pellegrini).

Justin Winkler erläuterte mir das aktuelle Arbeitsprogramm seines Vereins. Dabei formulierte er eine Reihe pädagogischer Forderungen, die mir nicht unbekannt vorkamen. Ich fragte ihn, ob er schon etwas von Auditiver Wahrnehmungserziehung gehört habe. Winkler verneinte. Ich erklärte, dass es den Anschein habe, die pädagogischen Ziele des World Forum for Acoustic Ecology deckten sich weitgehend mit den Zielen dessen, was wir Musikpädagogen „Auditive Wahrnehmungserziehung" nennen.

Spot 4

Der Name Murray Schafer (Bild) war mir aus den Zeiten der Roten UE-Reihe durchaus ein Begriff. 1988 geriet der Name erneut in mein Blickfeld, als das Buch „Klang und Krach" erschien (Bild, unten). In diesem Buch wird nicht nur der „Erhalt der Artenvielfalt akustischer Klänge" und eine auditive Wahrnehmungsschulung gefordert, es wird auch angeregt, eine „Klangbibliothek der Welt" anzulegen, Landschaften akustisch zu vermessen und einen Studiengang „Klangdesign" einzurichten. Die akustische Landschaftsvermessung geschah zwischenzeitlich im „World Soundscape Project". Die Gedanken Schafers wurden von der New Age Bewegung rezipiert.

1993 tauchte ein Student bei mir auf und erzälte von einer Reise nach Kanada und der Gründung des World Forums of Acoustic Ecology. Er hieß Klaus Wittig. In den folgenden Jahren führte Wittig in ganz Deutschland „Soundwalks" nach Schafers Vorbild durch, die in der lokalen Presse ein freundliches Echo fanden.

Mit unserem Seminar besuchten wir Wittig in Hude, wo er mit uns ebenfalls einen Soundwalk durchfüührte (Bild). Im Anschluss an den Soundwalk entlang des Huder Kanals führten wir ein Experiment durch, das in einer wissenschaftlichen Untersuchung Wittigs ausgewertet werden soll.

Im Jahr 1998 häuften sich meine Begegnungen mit dem Namen Murray Schafer. Im 3. Heft von Musik und Bildung wurde das Stück „epithaph for moonlight" von Schafer, das 1971 in der Roten Reihe erschienen war, neu entdeckt und musikpädagogisch zubereitet. Wenige Wochen später erschien ein umfangreicher Aufsatz von Günter Olias über „Klanglandschaften" in Musik in der Schule 4/1998. Ohne expliziten Bezug zur Auditiven Wahrnehmunserziehung entwickelt Olias eine ausgefeilte Didaktik von Soundscape. Im September las ich von einer für den 11. Oktober geplanten deutschen Erstaufführung des Musiktheater-Requiems „Patria II" aus dem Jahre 1966-72 von Schafer in Dresden. Und am vergangenen Wochenende erzählte mir ein Bekannter von der Aufführung des Soundscapes „Winter Diary" auf den Donaueschinger Musiktagen. Das am 23.12.1997 im WDR gesendete Stük hatte den Karl-Sczuka-Preis des SWF gewonnen und wurde in einem Kino vor dunkler Leinwand gespielt.

Fazit: Die Zeit war reif geworden für „Soundscape"... Murray Schafer, über den ich auf einer Jahrestagung des „Forums für Klanglandschaft" in Karlsruhe sagen hörte, dass er zum alten Eisen der Soundscape-Bewegung gehöre und etwas zurückgezogen-resigniert in seinem kanadischen Domizil lebe, war mir innerhalb kurzer Zeit vier Mal in recht unterschiedlichen Zusammenhängen begegnet.


Über den Tod der Auditiven Wahrnehmungserziehung

Meine „Wiederbelebungs-Frage" setzt den Tod der Auditiven Wahrnehmungserziehung voraus. Als Symptom des Todes wird die Einstellung des „Sequenzen 1"-Konzepts durch den Klettverlag angeführt. Ein weiteres Todeszeichen ist die Tatsache, dass spätere musikdidaktische Konzepte die Hörerzeihung weitgehend vernachlässigen und dabei erfolgreich sind. Ich selbst frage gelegentlich MusikstudentInnen nach Erinnerungen an ihren Musikunterricht und stoße dann erstaunlich oft auf Erinnerungen an musikalische Grafiken und Stricknadeln, die man an der Tischplatte befestigt, oder Strohhalme, auf denen man geblasen hatte. Mit dem Wort „Parameter" können die wenigsten etwas anfangen. Die Erinnerungen sind dabei meist ohne Euphorie, aber auch nicht so haßerfüllt, wie ich es öfter bezüglich Singen, Formanalyse oder Klassik-Hören erlebe.

Solcherart „Tod" vorausgesetzt ist auch über Todesursachen nachgedacht worden. Ulrich Günther hat selbst resumiert, welche Elemente des Konzepts gescheitert oder durch neuere Entwicklungen überholt seien. Dazu gehörten:

Aus meiner heutigen Sicht ist allerdings das entscheidende Problem der Auditiven Wahrnehmungserziehung, dass sie von einem durch die Schulpraxis weitgehend überholten, in der musikpädagogischen Theorie allerdings noch nicht aufgearbeiteten Paradigma ausgeht. Dies ist das Paradigma der musikalischen Kommunikation. Hiernach hat Musik letztendlich eine „Bedeutung", die Menschen mehr oder weniger gut „verstehen" können. Die Bedeutung jedoch liegt „in" der Musik und ist vom Komponisten, Musiker oder „Sender" dorthinein verlagert worden. Bezüglich solcherart Bedeutung gibt es ein „richtiges" und „falsches", ein „adäquates" oder „inadäquates" Verstehen von bzw. Umgehen mit Musik. - Selbst die modern anmutenden Aspekte, die Wilfried Gruhn in die MusikHören-Verstehens-Diskussion mittels Gehirnforschung hineingetragen hat, ändern nichts an diesem alten Paradigma.

Die Praxis des Musikunterrichts, wie wir sie aufgrund der Nachfrage an Lehrerfortbildung und natürlich auch beobachtend in der Schule verfolgen können, hat inzwischen aber einen postmodernen Paradigmenwechsel vollzogen. Danach wird das traditionelle Kommunikationsmodell der Musik ad acta gelegt. Es gibt nicht mehr „die" Bedeutung von Musik, nicht mehr „das" Verstehen von Musik. Es wird sinnlos von Sender, Empfänger und Botschaft zu reden - und pädagogisch danach zu handeln.

Nach dem neuen, postmodern konstruktivistischen Paradigma entstehen „Bedeutungen" allein durch den Umgang eines Menschen mit dem Gegenstand, beispielsweise Musik. Der Mensch (vulgo „HörerIn") „konstruiert" seine Bedeutung, versteht so, wie, und das, was er will.

Sie alle haben sicherlich mehr oder weniger wohlwllend diesen Paradigmenwechsel schon beobachtet. Er ist keine Folge der Theorie oder wissenschaftlichen pädagogik. Er ist einfach die bestehende, gängige Praxis. Ob die Schütz’sche Afrodidaktik, die Lugert’sche Poppragmatik oder mein szenisches Spiel - immer wieder erscheint die MusiklehrerIn nur noch als RessigeurIn von Inszenierungen, innerhalb derer die SchülerInnen sich ihre höchst persönlichen Bedeutungen von Musik erarbeiten.

Für mich ist die Auditive Wahrnehmungserziehung eigentlich nur tot aufgrund der Tatsache, dass sie ein durch die Praxis überholtes Paradigma voraussetzt. Und deshalb war ich fasziniert bis schockiert, als ich auf die Soundscape-Bewegung stieß, die alle Züge der Postmoderne trägt und dennoch Ideale der traditionellen Hörerziehung aufrecht zu halten schien.


Was ist Akustikökologie?

Mit traditioneller Akustikökologie verbinde ich die Tätigkeit der Psychologoischen Lärmforschung , die moralischen Mahnungen der Lärmaposteln im Sinne der „akustischen Umweltverschmutzung" durch funktionale Musik, durch Massenmedien, Walkman oder Diskotheken. Liedtke ist in Deutschland eine marktführende Stimme, aber auch Murray Schafer ist in dieser Hinsicht rezipiert worden. Irgendwie geHört auch Berendt in diese Ecke, obgleich sein Konzept „Das Ohr ist der Weg" nicht zwingend Lärm (z.B. lauten Free Jazz) vermeidet.

Die traditionelle Akustikökologie betrachtete folgende Phänomene:

Lärmforschung, wie sie auch hier in Oldenburg in einem Graduiertenkolleg betrieben wird, weiß, dass nicht Dezibel oder Phon das Maßon Lärm im Sinne einer psychologischen und physiologischen Kategorie. Die aktuelle Akustikökologie betrachtet das dynamische, selbstregulierte Gleichgewicht der Lebensenergien, wozu auch „Schallenergie" geHört. Man kann aus einem solchen Selbstregulationsprozess nicht eine einzelne Komponente herausnehmen oder gar abschaffen wollen.

Ob man die Untersuchungen zum Image eines Autos aufgrund des Klanges der Tür, zu irreversiblen Hörschäden bei Kindern aufgrund von Kinderspielzeug, zum RadioHören von Hausfrauen am Vormittag oder von Autofahrern in der Nacht, zur emotionalen Resonanz auf digital reproduzierte Musik etc. etc. nimmt .... immer wieder bemerkt man, dass der Umgang mit akustischem Schall in ein vielfältiges System von Lebensweisen einer Kultur eingebaut ist.

Der bereits erwähnte Paradigmenwechsel besagt auch hier, dass, sofern gewisse physiologische Grenzen eingehalten werden, jeder Mensch seinen eigenen Begriff von „Lärm" und von akustischer Umwelt konstruiert. Freud und Leid mit eingeschlossen. Auf dem Jahreskongreß der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie 1998 in Dortmund habe ich erfahren, dass dies „Konstruieren" von Lärm und akustischer Umwelt auch im medizinischen Sinne viel weiter geht, als ich erwartet hatte. Günter Fleischer vom Institut für Anatomie und Zytobiologie Gießen berichtete aus seinen empirischen Forschungen zu Hörschäden. Fleischer betreibt das weltweit größe Datenarchiv von Messwerten über Hörkurven. Er versucht mit empirischen Methoden zentralen Ursachen von Hörschäden aufzuspüren. So hat er beispielsweise festgestellt, dass einige Hörschäden bei Musikern der Wiener Philharmoniker nicht durch den Arbeitsplatz „Orchester" sondern in der Freizeit oder durch Kindheitserfahrungen mit Ohrfeigen verursacht waren, er hat signifikante Ursachen im Bereich Kinderspielzeug festgestellt, ist aber nicht in der Lage, signifikante Hörschäden aufgrund von Diskothekenbesuch festzustellen! (Letzteres erklärt Fleischer dadurch, dass dort zwar Dauerbelastung, aber keine extremen „Spitzen" auftreten, was zu tinitusartigen Erscheinungen, nicht jedoch Veränderungen der Hörschwelle führt.)

Der aktuelle Trend der Akustikökologie geht weg von „Aufklärung" und Kritik hin zu bewusster akustischer Umweltgestaltung bzw. Beschallung. So lebt Muzack mit der Bezeichnung „Klangdesign" wieder auf. Die Jingles im Radio oder die Lautstärkensteuerung von Hintergrundsmusik in Abhängigkeit vom Lärmpegel in einer Kneipe sind erste Anzeichen. 400 000 DM hat der Bremer Senat für die Installation japanischer Wassergeräusche ausgegeben, die man aus Lautsprecher-Gullis vor der Kongresshalle Hören kann. Spiekeroogs Fremdenverkehrsverein engagierte das Erste improvisierende Streichorchester für dreitägiges „LandArt"-Projekt, an dem alle Inselbewohner teilhatten. Auf der Expo 2000 installiert eine Oldenburger Freizeitsport-Arbeitsgruppe nicht nur taktile „Relax-Walks", sondern selbstverständlich auch akustische. Horoskopvertonungen mit eingeschlossen.

Bild: Internet-Seite eines Soundwalks durch Toronto. An allen gekennzeichneten Stationen kann man sich Sound im WAV-Format laden und anHören.


Was ist und will die Soundscape-Bewegung?

dass ein „Soundscape" im strengen Sinne ein akustisches Landschaftsbild ist, habe ich bereits erwähnt. Murray Schafers Theorie postuliert, dass es so etwas gibt und dass so etwas überhaupt von Relevanz für das Leben von Menschen ist. Heute kann man „Sound Maps" vieler Regionen der Welt bekommen. Winkler hat solche Landkarten für Alpentäler erstellt. Im Internet kann man einen „Soundwalk" durch Toronto durchführen (Bild auf voriger Seite) oder sich einzelne WAV-Dateien mit Umweltgeräuschen aus aller Welt „runterladen". Als Hörbeispiel führe ich Ihnen vor, wie sich eine Turmglocke in Toronto und das Innere einer Kneipe in Maui (eine der Hawi’i-Inseln) übers Internet anhört: Hörbeispiel.

Ein „künstlerisch wertvolles" Projekt hat Thomas Gerwin am Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe durchgeführt. Vor ca. 2 Jahren veröffentlichte Gerwin einen Aufruf, in dem er Menschen aus aller Welt bat, ihm Tonaufnahmen aus ihrer Lebensumgebung zu schicken. Gerwin erhielt einige hundert Tapes und bearbeitete diese zu kleinen (oft rhythmisierten) Klangschnipseln. Ca. 100 solcher Schnipsel können allein oder in Gruppen über einen Knopfdruck abgerufen werden. An einer riesigen Landkarte leuchten entsprechende Lichtpunkte auf. Mehrere Schnipsel können gleichzeitig abgespielt werden, sie sind musikalisch aufeinander bezogen. Nach meinen persönlichen Erfahrungen ist diese „Akustische Weltkarte" (Bild), die im Herbst 1997 mit dem ZKM eingeweiht wurde, ein faszinierendes Spielzeug für Laien und ein kompositorisches Tool für MusikerInnen.

Thomas Gerwin verkörpert die deutsche Soundscape-Bewegung. Er ist Vizepräsident der deutschsprachigen Sektion des 1993 gegründeten World Forum for Acoustic Ecology, das sich „Forum für Klanglandfschaft" nennt. Gerwin hat Soundscapes im Auftrag zahlreicher Organisationen erstellt, so einen über das Wattenmeer anläßlich des 10-jährigen Bestehens des Niedersächsischen Naturparks Wattenmeer, über den Neckar für die Bundesgartenschau ‘98 in Plochingen usw.

Das World Forum for Acoustic Ecology ist zwar am 13.8.1993 in Kanada gegründet worden, hat sich aber erst am 13.6.1998 in Stockholm anläßlich einer Fachtagung zum selben Thema formell konstituiert. Um 60 Mark ist man dabei! Mitglieder sind überwiegend Raumplaner, Architekten, Rundfunkmacher und Menschen aus den KulturbeHörden der Kommunen. Die produktionsstärkste Lobby hat die Soundscape-Bewegung am Hessischen und Westdeutschen Rundfunk.

Seit 1993 gibt es „Die Schule des Hörens", für die Karl Kast 1997 eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks erarbeitet hat. Sein sog. „Sound Puzzle" gibt es inzwischen auch auf CD. Diese Schule des Hörens veranstaltete bislang 20 Tagungen und sonstige Groß-Events, davon 10 im Jahre 1997. Ihr Sitz ist zur Zeit Köln, wo sich auch Hans Ulrich Werner mit dem WDR-Studio für Klangdesign befindet. für den WDR produzieren zahlreiche freie Mitarbeiter unter der Bezeichnung „Soundscape" Hörspiele oder Hörreportagen, z.B. Michael Rüsenberg und Wolfgang Hamm. Die entsprechenden Soundscapes tauchen nicht nur in der Sendezeit von Klaus Schönings „Studio für akustische Kunst", sondern auch in den täglichen „Musikpassagen" und dem „Zeit-Zeichen" auf. Hier ersetzen sie die üblichen Wort-Ton-Sendungen, in denen ja auch schon früher Originalaufnahmen von WDR-Reportern gesendet wurden.

Ein Beispiel: In einer üblichen Wort-Ton-Sendung über „Gamelanmusik" werden Interviews mit Musikern, O-Tonaufnahmen aus Java und Kommentare des Redakteurs zusammengeschnitten und, vor allem bei den Musikaufnahmen, die Hintergrund-Störgeräusche ausgeblendet. Beim Soundscape gibt es keinen sprechenden Redakteur mehr. Der Redakteur kommentiert dadurch, dass er sein (reales oder virtuelles) Mikrofon auf unterschiedliche Begebenheiten in Bali richtet, gackernde Hühner, streitende PassantInnen, Gamelan spielende Musiker, singende ZuHörerinnen usw. Die Musik erscheint so, wie es ja auch „im Original" der Fall ist, in eine Klanglandschaft eingebettet, die der Redakteur als Ganze protraitiert und akustisch zeichnet. Hörbeispiel (Wolfgang Hamm „Bali Soundscape", WDR 5 27.9.97)..

Die Soundscape-Bewegung verbindet, wie die erwähnten Initiativen zeigen, künstlerisch-produktive und (medien-)pädagogische Komponenten. Virtueller „Auftraggeber" ist derzeit weder die Medien- noch die Musikpädagogik, sondern ganz offensichtlich der Rundfunk, der nach einem neuen Selbstverständnis sucht. Und er formuliert in der Tat inzwischen Ziele, die aus der klassischen Zeit der Auditiven Wahrnehmungserziehung stammen könnten.


Soundscape-Bewegung und Auditive Wahrnehmungserziehung

Der aktuelle Aufruf der SCHULE DES HÖRENS im Internet formuliert keine konkreten Methoden der Hörerziehung. Insofern handelt es sich hier nicht um eine „Schule" im herkömmlichen Sinn. Streng genommen ist es das Ziel des Vereins, die politischen Voraussetzungen für eine Auditive Wahrnehmungserziehung zu schaffen, denn es soll ja ö„die Bedeutung" des (Zu)Hörens und des Hören-Lernens „ins öffentliche bewusstsein" gehoben werden. Dieser gleichsam methoden-indifferente und damit pluralistische Ansatz kennzeichnet bereits einen wesentlichen Unterschied zwischen der Philosophie der Soundscape-Bewegung und der Auditiven Wahrnehmungserziehung. Insofern finden sich in den Tagungsberichten und Publikationen, die die SCHULE DES HörENS initiiert, so heterogene Beiträge wie

Die gleichsam taktischen Unterschiede der Soundscape-Bewegung und der Auditiven Wahrnehmungserziehung sind bedingt durch die unterschiedlichen „Auftraggeber". Während die Soundscape-pädagogik die des „öffentlichen Mediums" Rundfunk (Radio) ist, das von der freiwilligen Teilnahme der Menschen ausgeht, zielt die Auditive Wahrnehmungserziehung ja auf den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen, der unter einem gewissen Legitimationsdruck steht, nicht jedoch wie der Rundfunk von jedem Einzelnen ein- und ausgeschaltet werden kann. Universitäten (im Bild Schafer in Vancouver) nehmen im Hinblick auf den „Auftraggeber" eine Zwischenstellung ein.

Mit Sicherheit stimmen die Zielformulierungen von Soundscape-Bewegung und Auditiver Wahrnehmungserziehung weitgehend überein. Dennoch spielen sich derartige Zielformulierungen auf einem unterschiedlichen Hintergrund ab. Auch wenn die Erscheinungen weitgehend gleich aussehen, so können sie doch Unterschiedliches bedeuten! Der erwähnte Methodenpluralismus der Soundscape-Bewegung ist Symptom eines tiefer liegenden Unterschieds:

Wie schon gesagt ging die Auditive Wahrnehmungserziehung vom traditionellen musikpädagogischen Paradigma aus. Ihr Kennzeichen war das Kommunikationsmodell von Sender, Empfänger und Botschaft, die Musikästhetik von von Form und Inhalt sowie eine Didaktik, die auf „Vermitteln" und „Verstehen" aufbaute. Hörerziehung bedeutete unter Zugrundelegung dieses Paradigmas letztendlich die Heranführung der SchülerIn an „die Musik", „den bedeutungsvollen Schall". Adorno hin oder her: diese Bedeutung muss letztendlich dechiffriert werden. Es gibt ein eindeutiges Richtig und Falsch, einen adäquaten oder inadäquaten Umgang mit Musik.

Die Soundscape-Bewegung hingegen benutzt das Hören und ZuHören nur im Sinne einer notwendigen Voraussetzung, mit deren Hilfe sich die Menschen Wirklichkeit aneignen - exemplarisch die sie umgebende „Klanglandschaft". Die Bedeutung findet hierbei gemäß dem neuen, konstruktivistischen Paradigma jeder Mensch selbst. Die Bedeutung ist nicht mehr in einem „bedeutungsvollen Schall" kodiert. Insofern ist Zappen erlaubt, das gezielte und technisch vermittelte Floaten zwischen „Soundscapes". Insofern ist Hören Teil bei der Erstellung einer patchwork-Jugendkultur. Hören und ZuHören sind Fähigkeiten im Kontext dessen, was die Medienpädagogik „Medienkompetenz" nennt. ökologisch ausgedrückt: jeder verschmutzt sich seine Umwelt so, wie er es will. dass er es in omnipotenter Weise kann, ist eine der euphorischen Grundannahmen des neuen Paradigmas, über dessen Legitimation ich hier nicht zu Gericht sitze.

Meine grobe Antwort auf die Frage, ob die Soundscape-Bewegung die Auditive Wahrnehmungserziehung wiederbelebt, lautet daher: Wiederbelebung ja, aber auf der Basis eines neuen Paradigmas. Dadurch hat sich aber die Bedeutung des ganzen ursprünglichen Unternehmens grundlegend verändert.


Ein Beispiel aus dem Lehrbetrieb an der Uni als differenzierte Antwort

Die Soundscape-Übungen, die wir mit StudentInnen durchgeführt haben, unterscheiden sich kaum von dem, was wir seit 25 Jahren hier unter „apparativer Musikpraxis" verstehen. Ziel einer Soundscape-Produktion war, eine Klanglandschaft akustisch zu zeichnen. Dabei sollten sich die ProduzentInnen bewusst sein, dass

Als Vorübung portraitierten alle SeminarteilnehmerInnen den Betrieb im Uni-internen Schwimmbad. Die ersten Schritte unserer Hörschulung beim Abhören dieser Arbeitsergebnisse bestand darin, dass wir nicht immer fragten, „welcher Vorgang ist soeben akustisch dargestellt?", sondern dass wir lernten, die Stimmung der Situation, eben der „Klanglandschaft", zu hören.

Im weiteren Verlauf des Seminars bearbeiteten alle StudentInnen das Thema „Meer". Ich selbst erstellte einen kleinen Soundscape, in dem ich Erlebnisse anläßlich eines Aufenthalts im Nordseebad Schillig portraitierte (Bild). Zwei akustische Erlebnisse erschienen mir bemerkenswert: erstens das Geräusch einer Kinderschaukel in Verbindung mit Mövengeschrei und zweitens die Begeisterung eines Jungen über einen Sightseeing-Hubschrauber, dessen Lärm mich erheblich ärgerte. Hörbeispiel.


Fazit

Mein didaktischer Ansatz beim Umgang mit Soundscapes:

Die ProduzentInnen (KomponistInnen oder SchülerInnen) machen „vor Ort" gewisse Erfahrungen, die durch eine Reihe akustischer Erlebnisse ausgelöst werden. Diese Erlebnisse werden gesammelt in der Absicht, etwas von der eigenen Erfahrung zu vermitteln. Dazu werden die akustischen Erlebnis-Schnipsel neu zu einem Soundscape zusammengestellt, „komponiert". Beim Anhören der Soundscape-Produktion laufen die akustischen Erlebnisse in Verbindung mit dem unausgesprochenen Kommentar, den die Zusammenstellung bzw. Komposition des Klangmaterials darstellt, vor den HörerInnen (z.B. MitschülerInnen) ab. Die HörerInnen „konstruieren" sich „Bedeutungen", indem sie Erlebnisse „haben". Erst dann, wenn mit anderen Menschen über diese Erlebnisse - verbal oder nonverbal - kommuniziert wird, werden aus den Erlebnissen Erfahrungen, aus denen gelernt wird. Dieser Vorgang geschieht unter Kontrolle der MusiklehrerIn. Er beinhaltet „Lernen". Der gesamte Prozess ist eine neue, postmoderne Form von Auditiver Wahrnehmungserziehung mit Hilfe von „Soundscapes".