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Die chilenische Cueca und Stings „Cueca Solas"

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Stings Hommage an die chilenischen Frauen der Bewegung „Madres de la Plaza de Mayo" im Song „They Dance Alone" („Ellas Danzan Solas") wird von Kathrin Remmert in Musik und Unterricht 64/2002 mutig und sorgfältig analysiert und für den Musikunterricht didaktisch aufbereitet. Dieser Aufsatz ist deshalb sehr zu begrüßen, weil er im modischen Wust der Verwendung von Lateinameirkanischer Musik im Unterricht einen erfreulich politischen Akzent setzt. Er kommt einer Forderung interkultureller Musikerziehung entgegen, die besagt, dass „fremde Musik" nicht allein in ihrer durch die Globalisierung entfremdeten Erscheinungsweise (d.h. als „Latin"), sondern auch als musikalische Aneignung realer (lateinamerikanischer) Lebensverhältnisse erfahren werden soll.

Die didaktischen Hinweise im erwähnten Aufsatz sind allerdings derart untauglich, diese Forderungen einer „realistischen" interkulturellen Musikerziehung einzulösen, dass ich im folgenden konstruktiv und solidarisch Kritik an Kathrin Remmerts Ausführungen üben muß. Wie sähe der Unterricht, folgte er den Hinweisen der Autorin, aus? Zuerst erfolgt die Lektüre („Auseinandersetzung") mit Stings Text und darauf folgend werden Vorschläge von SchülerInnen erwartet, wie dieser (Sting-) Text vertont werden könnte. Sodann soll der Titel von Sting angehört und mit den Schülervorschlägen verglichen werden. Drittens soll eine (aufgrund der Komplexität von Stings Titel rudimentäre) „musikalische Nachgestaltung" folgen. Abschließend wird „vertieftes Verständnis" der Hintergründe dadurch erarbeitet, dass auf die Diskrepanz zwischen Stings Song und der „wirklichen" chilenischen Cueca hingewiesen wird. Hierbei soll auch eine Cueca (ohne Musik) choreografiert werden.

Immament ist an diesem Vorgehen zu kritisieren, dass der Unterricht nicht mit der sinnlich-konkreten Erfahrung (einer Cueca), sondern mit Textanalyse ansetzt. Dabei ist Stings Text als Meta-Reflexion schon recht kompliziert und alles andere als Sachinformation über die Cueca oder die Aktionen der chilenischen Frauen. Zudem ist es eine Interpretation und Bewertung dieses Vorganges - und gerade das sollten die SchülerInnen ja selbst vornehmen und nicht vorgesetzt bekommen. Sodann sollen die SchülerInnen Vertonungsvorschäge machen. Das hierbei entstehende Problem ist bekannt: allein aus der Textexegese kann keine gute Musik und auch kreative Motivation entstehen, vor allem aber auch keine, die an die kompositorische Rafinesse von Sting heranreicht. Vorprogrammierter Frust? Dasselbe gilt für die „Nachgestaltung", die letztendlich einem Reproduktionsversuch gleich kommt. Hier hätte eventuell auf Basis eines konkreten Cueca-Patterns ein kleines Bruchstück von Sting herausgegriffen und neu gestaltet werden können. Der Hinweis auf die „wirkliche Cueca", die für Stings Musik übrigens praktisch keine Rolle spielt, ist brottrocken: hier soll zwar getanzt werden, aber offensichtlich ohne Musik.

Diese immanenten Kritikpunkte mögen kleinlich erscheinen. Jede MusiklehrerIn dürfte aus den Materialien von Kathrin Remmert schon „ihren" Unterrichtsablauf heraus destillieren. Indessen ist diese Kritik nur die immanente Seite einer weiterreichenderen. Die Unterrichtseinheit ist ein Beispiel von gutem Willen mit schlechten Erfolgsaussichten. Die sinnliche Erfahrungsebene des Unterrichts ist reduziert auf das klägliche Nachgestalten der sehr raffinierten Komposition von Sting. Alles andere ist intellektueller Papierkrieg. Die SchülerInnen lernen somit als „hidden curriculum", dass erfolgreiche Musik von Weltstars gemacht nicht richtig reproduzierbar ist und dass der politische Kern von Musik eine Angelegenheit von Text, Information, Wissen und Auswendiglernen ist. Dabei werden auf der emotionalen Ebene Klischees mobilisiert: Frauen ohne Männer, Mut und Bewunderung, böse Diktatoren, volkstümliche Musik aus der Seele der Menschen etc. und das alles in der musikalisch aufbereiteten betulichen Darbietung von Sting.

Semestereröffnungsveranstaltung in La Serena (Chile) mit einer die Cueca tanzenden Folkloregruppe. Teils amüsiert, teils gleichgültig sehen die StudentInnen zu...

Diese Art Musikunterricht ist gerade auch in politischer Hinsicht kontraproduktiv. Dabei bietet sich das Thema wirklich für einen interkulturellen Unterricht an. Grundmaxime ist alledings: Erstens muß am Anfang die (noch nicht vor-interpretierte) sinnliche Erfahrung der Realität, d.h. der Cueca-Tanz der Frauen vor der moneda in Santiago, stehen. Sodann muß diese Erfahrung von den SchülerInnen interpretiert werden. Und ganz zum Schluß kann die Auseinandersetzung mit Stings Versuch einer Interpretation stehen. Die erste Erfahrung hat wiederum nach dem „Schnittstellenansatz" interkultureller Musikerziehung vom Gemeinsamen zur Differenz fortzuschreiten.

Bei der Vorbereitung einer solchen Unterrichtsabfolge sind die „Knackspunkte" der vorliegenden Thematik herauszuarbeiten und didaktisch zuzuspitzen. Der „Knackspunkt" ist im vorliegenden Falle tief musikalisch: es ist die Art und Weise, wie Musik umgedeutet wird und dabei einen emminent subversiven Charakter bekommen kann. Die chilenische Cueca ist (allen musikethnologischen Querelen zu Trotz) im Kern ein Tanz, der seine Symbolkraft aus den Unabhängigkeitsbestrebungen der herrschenden (spanisch stämmigen) Klasse Chiles zu Beginn des 19. Jahrhunderts gezogen hat. Sein rhythmisches Charakteristikum ist, wie ich noch im Frühjahr 2001 auf Chiles Straßen beobachten konnte, der mit einem 3/4-Takt untermischte 6/8. Das äußert sich darin, dass umstehendes Publikum bei Cueca-lastiger Straßenmusik spontan und zielsicher die 6/8-Offbeats mitklatscht, also - x x - x x (auf den 3/4-Takrt x - x - x -). Die Cueca ist zudem einerseits ein mit leisem nostalgischem Lächeln bedachter Tanz, etwa de deutschen Polka vergleichbar. Daneben gibt es so viele Untergattung und Spezialtanzformen, dass Cueca-Tanz im Sportstudium gelehrt und in der Schule gelegentlich auch als „Kunst" unterrichtet wird. Schließlich jedoch hat Pinochet 1979 versucht, die Cueca „dem Volk" zu entreissen und zum Nationalsymbol des faschistischen Chile zu erheben. Dies steht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Pinochet andere Formen der Folklore verfolgt hat bis hin zum zeitweisen Verbot klassischer Anden-Instrumente. Das Phänomen „Folklore" sollte in gut und böse gespalten werden: gut die kreolische Cueca, böse das sich hinter Andenklängen „versteckende" politische Nueva Canción Chilena vom Stile Inti Illimani, Quilapayun oder Illapu.

Vor diesem Hintergrund ist der männerlose Cueca-Tanz der chilenischen Frauen angesichts des vor dem Regierungspalast Pinochet aufgebauten Militärs ein äußerst raffinierter und differenzierter Schachzug. Intuitiv wird hier die erfolgreiche Strategie ergriffen, dem Feind die Waffen zu entreissen und ihn mit seinen eigenen Waffen zu anzugreifen. Dies ist weder „grotesk" noch „sarkastisch", wie Kathrin Remmert meint. Dies ist ganz im Sinne Hanns Eilsers schlichtweg „klug". Die Botschaft des Tanzes könnte in folgende Worte gefasst werden: „Die Cueca gehört uns!", „Wir lassen uns unsere Kultur nicht nehmen" und „Eine Cueca unter Pinochet ist nur eine halbe Cueca". - Angenommen, Sting habe diese Botschaft ebenfalls vernommen, verstanden und versucht, sie mit seinem Song musikalisch weltweit zu verbreiten, dann ergibt sich zwangsweise der folgende Unterrichtsablauf:

(1) Musikalische Vorbereitung. Um den männerlosen Tanz vor der moneda musikpraktisch vorzubereiten, werden zwei charakteristische Cueca-Elemente musikpraktisch erarbeitet, die später genügend „Spielraum" offen lassen und zugleich eine authentische Atmosphäre vermitteln. Über einem Playback einer einfachen Cueca wird (1) das charakteristische Klatschen eingeübt, in Achteln „Pause-Klatsch-Klatsch-Pause-Klatsch-Klatsch". Zudem wird (2) der an sich sehr reglementierte Bewegungsablauf szenisch „analog" nachgespielt, d.h. ohne auf genaue Schrittregeln zu achten, aber mit einigen charakteristischen Gesten und dem Taschentuch (siehe MuU 64/2002, S.18).

(2) Inhaltliche Vorbereitung des szenischen Spiels der männerlosen Cucea. Rollenspiel: Pinochet beschließt, die Cueca zum Nationaltanz zu erklären. Hierzu wird Diskussion mit Militärs, Geheimdienstlern und US-Beratern mit musikwissenschaftlichen Kentnnissen geführt, in der es um die Frage geht, ob diese Maßnahme nicht ein Selbstschuß werden könnte.

(3) Konkrete Vorbereitung des szenischen Spiels. Die Frauen, deren Söhne und Männer „verschwunden" sind, besprechen, welche Formen des Protests sie wählen könnten, nachdem das stumme Herumstehen mit den Fotos der Verschwundenen in den Straßen von Santiago nicht sonderlich wahrgenommen wird. Die Diskussion wird bis hin zum Einüben des Tanzes geführt. Es wird zudem geprobt, wie man sich bei einem Eingreifen der Militärs verhält. Zudem wird einstudiert, wie man ohne eine Begleit-Band nur mit Körperinstrumenten und Stimme eine Cueca „nachspielen" kann.

(4) Szenisches Spiel vor der moneda (Regierungspalast in Santiago). Soldaten marschieren auf und stellen sich in Positur. Verschüchterte BürgerInnen gehen vorbei. Nach und nach kommen die Frauen und tanzen. Mit den beim szenischen Spiel üblichen Verfahren von Standbild, Spiel-„Stop!", Befragung, Hilfs-Ich-Äußerungen etc. werden viele mögliche Varianten des Spielablaufs durchgearbeitet. - In jedem Falle sollten mehrere SchülerInnengruppen mehrere möglichen Spielabläufe vorbereiten und durchführen. Erfolgreiche und erfolglose, abgebrochene, unterdrückte, durch PassantInnen ermutigte etc. Versionen sollten erarbeitet werden. Es kann auch eine Straßenmusikgruppe hinzutreten, die die Frauen von Ferne unterstützt, oder ein Mann mit einem Ghettoblaster.

(5) Das szenische Spiel wird ausgewertet. Dabei kann auch Sting als Person eingeführt werden, der bei den Frauen nachfragt, was sie erreichen wollten und erreicht haben. Die Frauen diskutieren auch Stings Idee, ein Musikstück über sie zu machen. Und schließlich diskutieren die Frauen - 3 Jahre später - das Stück „Ellas Danzan Solas". Könnten sie es bei ihrem Protest verwenden? Hilft es ihnen? Oder fühlen sie sich „vermarktet"?

Als „Straßenmusik" wird diese Cueca mit ZuschauerInnen zusammen circa 100 m vom Regierungsgebäude (moneda) in Santiago de Chile im März 2001 aufgeführt. Der nicht gerade einfach Klatschrhythmus geht den meisten ChilenInnen noch gut von der Hand

Diese 5 Arbeitsschritte breiten das Material von Kathrin Remmert nicht nur „spielerisch"-szenisch auf. Sie ordnen es auch vollkommen anders und reduzieren den Wust von (politischer und musikalischer) Information auf wenige „Knackspunkte". Eine besondere Rolle spielen dabei all jene Momente, in denen Entscheidungen zu treffen sind, deren Ausgang offen ist und die häufig - im Kathrin Remmert’schen Unterricht - rein verbal ablaufen oder bereits feststehen und nur noch nachvollzogen werden können. Zudem ist von Anfang bis Ende Musik präsent, drehen sich alle (politischen!) Diskussionen um Entscheidungen, die mit dem Einsatz von Musik zu tun haben. Und schließlich müssen die SchülerInnen nicht Fremdinterpretation exegetisieren, sondern können eigene Lösungsvorschläge zu prototypischen Problemen musikalisch-politischen Handelns entwickeln und erproben.

Einige der vorgeschlagenen Unterrichtsschritte ließen sich auch ohne szenisches Spiel vollziehen. Aber warum auf das Spielen verzichten, wenn es sich derart beredt anbietet? Wichtiger als die Methode des Spielens jedoch ist die grundsätzliche Herangehensweise: Stings Musik ist Anlaß, aber nicht das Ziel der Beschäftigung mit den vor der moneda tanzenden chilenischen Frauen. Die SchülerInnen sollen hierbei nicht voyeurhaft zuschauen, sondern selbst nachvollziehen, wie viele musikalische Entscheidungen notwendig sind, um mit musikalischen Mittel erfolgreiche Politik zu machen. Aus dieser „Rollenpespektive" heraus wird es sogar einen Transfer geben können von der Bewunderung des von den chilenischen Frauen vorgeführten mutigen „Kunststücks" und der Ermutigung, selbst musikalisch-kreativ eigene Interessen zu vertreten.

Fotos: Wolfgang Martin Stroh