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Text aus: Diskussion musikpädagogik 20/2003, S. 3-8.

"Musik lernen" ein taktisches Programm, das Fragen aufwirft

In "Diskussion Musikpädagogik" Heft 19 ist ein Aufsatz zu "Musik lernen" erschienen. Der Herausgeber Christoph Richter bat einige Kollegen, zu diesem Aufsatz Stellung zu nehmen. Größere Beiträge haben Thomas Ott und ich geschrieben. Der folgende Text ist mein folgender Beitrag. Es gab im Anschluss daran nochmals eine Diskussion, in der ich einige theoretische Positionen verdeutlicht habe. Zu meinem einschlägigen Diskussionsbeitrag!

Das vorliegende Programm zum „Musik lernen“ kann ich als ein taktisches Programm im Rahmen der Selbstverteidigung von Musikunterricht gut verstehen und akzeptieren, als ein wirklich sinnvolles Programm für den Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen ist es aber meines Erachtens nicht geeignet. Das hat folgende Gründe: Ich bezweifle den Wert der dem Programm zugrunde liegenden Forschung. Ich bezweifle, dass der „systematische“ Aufbau musikalischer Fähigkeiten via Audiation, tatsächlich effektiv ist, da er dem alltäglichen Aufbau musikalischer Fähigkeiten diametral entgegengesetzt ist. Ich bezweifle den Sinn der Ziele, die durch Singen im vorgestellten Sinn erreicht werden, und ich zweifle auch daran, dass die hohen Ziele des Programms auf dem vorgestellten Weg tatsächlich erreicht werden. Ich kritisiere den schlampigen Umgang mit dem Erfahrungsbegriff, der oft nur ein Erlebnis beschreibt, das zu einer Erfahrung verarbeitet werden müsste. Ich kritisiere den Handlungsbegriff, der keineswegs automatisch eine Lerntätigkeit realisiert. Ich kritisiere, dass "Aneignung von Wirklichkeit" (der beliebte "Lebensweltbezug") auf neuronale Repräsentation verkürzt und nicht handlungstheoretisch formuliert ist. Ich bezweifle also last but not least, dass "Musik lernen" ein vertretbares (Gesamt-)Ziel von Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen ist.

Im Folgenden möchte ich die hier genannten Zweifel und Kritikpunkte dadurch erläutern, dass ich sie ins Positive wende.

tango
Abb. 1. Kinder spielen Tango (am Rande einer Vorführung in San Telmo, Buenos Aires 2001

Ist das Lernen im Alltag kein Modell für schulisches Lernen?

Kinder bewegen sich sehr früh zu Musik, fangen aber spät oder gar nie an, „rhythmisch koordiniert“ zu Musik zu tanzen, was auch Moog trotz gegenteiligen Interesses feststellen musste Kinder ahmen, sobald sie einigermaßen auf den Beinen taumeln können, Tanzhaltungen von Erwachsenen nach. Nicht ein Walzer oder Tango an sich sondern der hingebungsvoll-liebende oder merkwürdig manierierte Gestus der Paare ist für die Kinder nachahmenswert oder Anlass zu Spott. Kinder erkennen die soziale Situation und die zwischenmenschliche Funktion des Tanzens lange bevor sie im Viervierteltakt gehen können. Vor nicht zu langer Zeit sendete "arte" [i] . einen musikethnologischen Beitrag, in dem Kleinkinder unterschiedlicher Kulturkreise zu sehen waren, die sich im Rahmen erwachsener Tanzdarbietungen sehr eindrucksvoll „analog“ („gestisch“) bewegten. - Ähnliches gilt auch für das Singen. Kinder produzieren Jahre lang sehr kreativ „Lall-“ oder „Spontangesänge“, ohne Liedmelodien oder Liedrhythmen nachzubilden bzw. anzustreben [ii] .

Ich gehe aufgrund dieser ganzheitlichen musikalischen Aneignung von Lebensrealität durch Kinder außerhalb von Schule auch im schulischen Unterricht in umgekehrter Reihenfolge der Gruhn’schen Lernschritte vor. Nehmen wir irgendeinen Tanz durch, zum Beispiel einen jiddischen Kreistanz, eine kolumbianische Cumbia oder eine chilenische Cueca, so fangen wir nicht mit den Schrittfolgen in ein- bis viertaktigen Einheiten an, sondern mit der Geschichte, die der Tanz erzählt: ein Fest wird gefeiert und in der Mitte brennt das Feuer; ein Mann umwirbt eine Frau, wird aber abgewiesen; eine Hochzeitsgesellschaft verbindet sich zu einem schneckenartigen Kranz, der die Braut umgarnen soll; usw. Die Kinder spielen erst einmal diese Story zur Musik. Danach wird die Story in Mini-Szenen (musikalische Einheiten) von meist von 4, 8 oder 16 Takten Dauer gegliedert. Jetzt werden die choreografischen Wechsel der einzelnen Mini-Szenen geübt. Anschließend kommen die Details der Rhythmus- und Bewegungsfiguren dran.

combo
Abb. 2 In der Kindercombo werden zuerst musikalische Haltungen (und hernach die richtigen Töne) gelernt.

Diese Reihenfolge ist der üblichen Tanzeinstudierung entgegengesetzt, entspricht aber der kindlichen musikalischen Aneignung von Lebensrealität. Jedes jüdische, kolumbianische oder chilenische Kind lernt die jeweiligen Tänze auf eine solche ganzheitliche, analoge Art und Weise und nicht nach dem Entwicklungskonzept amerikanischer Psychologen, deren Realität das Labor ist. Nur erwachsene Forscher kommen auf die wirklichkeitsfremde Idee, Kinder lernten zuerst den Rhythmus und gingen anschließend zum Inhalt und zum sozialen Aspekt des Tanzens über. Jedes Kind und jeder unverdorbene Mensch fragt zuerst nach dem Inhalt von Musik und interessiert sich hinterher oder eben gar nie für die Form. Lediglich Musikprofis denken umgekehrt, haben ja auch nicht umsonst ein langes Musikstudium hinter sich gebracht, in dem die Umkehrung der natürlichen Herangehensweise an Musik systematisch diskriminiert wird.

Im Projekt „Kindercombo“ [iii] habe ich die Konzeption ganzheitlichen Lernens erfolgreich auf das Instrumentalspiel übertragen. Die Kindercombo war ein langjähriges Forschungsprojekt mit mehreren Kleingruppen, deren Mitglieder weitgehend aus „Abbrechern“ im Instrumentalunterricht bestanden. Wir haben zuerst Musikgruppen-Haltungen choreographiert, „Elvis gespielt“ und hieraus die Motivation zum Üben von Trompetenansatz oder Gitarrengriffen gezogen. Ergebnis: die erste Gruppe von 6 Siebenjährigen, die im üblichen Instrumentalunterricht gescheitert waren, trat bereits nach 4 Monaten öffentlich und erfolgreich bei Zirkusveranstaltungen und Stadtteilkonzerten auf.

Man könnte einwenden: der Unterschied zwischen alltäglichem und schulischem Lernen bestehe gerade darin, dass der „defizitäre“ alltägliche Lernprozess auf den Kopf gestellt und „systematisiert“ wird, dass das ganzheitlich-analoge Herangehen an die Lebenswelt durch ein systematisch-digitales ersetzt wird. Die Frage ist dann allerdings, ob sich bei derlei Umkehrung nicht auch die „Lebenswelt“ ändert, die mit der Aneignungsweise in einer Wechselwirkung steht. Daher ist eine Rückbesinnung auf den Zusammenhang von Wirklichkeit, Aneignung, Lerntätigkeit, Handlung, Erfahrung und Fähigkeit notwendig.

"Musiklernen" [iv] ist Aneignung von Wirklichkeit mit musikalischen Mitteln

Da „Handlungsorientierung“ derzeit pädagogisch allgemein als „gut“ eingestuft wird, wird alles, was als „gut“ eingestuft werden soll, mit dem Etikett der „Handlungsorientierung“ versehen. Dass Schüler immer irgendwie handeln, ist trivial. Ob sie dabei lernen, ist eine zweite Frage. Und was sie dabei lernen, eine dritte. Handeln an sich ist keine pädagogisch sinnvolle Kategorie. Ebenso wenig wie Singen, Tanzen und Spielen. Darauf wies Adorno hin, als er dem „Musikanten“ vorwarf, „dass einer fidelt soll wichtiger sein, als was er geigt“ [v] .

Es gibt einer theoretischen Begründung von Handlungsorientierung, die mich überzeugt und zudem auch noch Adornos Vorwurf begegnet, eine Begründung, die „Handeln“ inhaltlich und nicht formal definiert. In dieser auf die Tätigkeitspsychologie zurückreichenden Begründung [vi] sind Handlungen dadurch bestimmt, dass sie Ziele „haben“ und eine Tätigkeit „realisieren“. Tätigkeit – dies ist die Kernaussage der Lernpsychologie Leontjews [vii] - ist stets Aneignung von Wirklichkeit durch den Menschen. Daraus folgt, dass Handlungen dann sinnvoll sind, wenn sie der zielgerichteten Aneignung von Wirklichkeit dienen. Lernhandlungen sind als Spezialfall davon solche, bei denen einerseits Wirklichkeit angeeignet und andererseits Fertigkeiten und Fähigkeiten („Kompetenz“) erworben werden. Solche Kompetenzen entstehen dadurch, dass Erfahrungen gemacht, d.h. Erlebnisse verarbeitet werden. Diese Verarbeitung ist nicht nur mental sondern auch „praktisch“. Das bedeutet, dass zur Erfahrungsverarbeitung auch die Veräußerlichung, die Veränderung der Umwelt gehört. Die Reduktion von Aneignung und damit der Lerntätigkeit auf "Verinnerlichung" im Sinne eines Aufbaus mentaler Repräsentationen lässt sich also mit Handlungstheorien nicht in Übereinstimmung bringen.

Im Musikunterricht wird Wirklichkeit musikalisch angeeignet, die Handlungen sind also musikalisch oder, wie oft gesagt wird um Verwechslungen mit „Musikalität“ zu vermeiden, musikbezogen. Die Wirklichkeit, die im schulischen Musikunterricht in Lernhandlungen angeeignet wird, ist eine doppelte: einerseits die Lebenswelt der Schüler, andererseits das Konstrukt „Unterricht“, die Lern- und Klassensituation. Die Musikpädagogik tut gut daran zu beachten, dass schulischer Musikunterricht eine künstliche Inszenierung (ein Konstrukt) ist, und daher die „musikpädagogische Musik“, die entsteht, wenn beispielsweise eine Schulklasse auf Xylophonen Popmusik simuliert, sogar funktionieren kann, obwohl sie nicht die ganze Wirklichkeit ist, die Schüler sich musikalisch aneignen. Dabei gibt es eine klare Prioritätenfolge: die erste Priorität hat die Lebenswirklichkeit der Schüler, die zweite erst das Konstrukt „Unterricht“. Letztere ist dazu da, der ersteren zu dienen – nicht umgekehrt. Dies ist auch Meinung aller, die von „Lebensweltbezug“ sprechen, oder, wie im vorliegenden Artikel, von „Welterfahrung“.

Man könnte die Diskussion um den psychologisch richtigen Handlungsbegriff als Griffelspitzerei abtun. Aber sie ist es nicht. Wird nämlich eine musikalische Lernhandlung nicht in den Dienst der Wirklichkeitsaneignung gestellt, dann verabsolutiert sie sich und führt  zu einer tautologischen Argumentation. Dies ist im vorliegenden Programm der Fall.  Zunächst heißt es noch im Text, musikalische Kompetenz erschließe Zugänge zu einem eigenen und durch nichts ersetzbaren Modus von Welterfahrung, sprich: sie sei die Fähigkeit, sich „die Welt“ mit musikalischen Mitteln anzueignen. In diesem Sinne ist sie eine in der Tat tätigkeitstheorisch begründete Handlungskompetenz. Doch bereits im nächsten Absatz wird dieser Sachverhalt von den Autoren auf den Kopf gestellt. Das Mittel wird zum Zweck. Nun heißt es, musikalische Kompetenz sei die Fähigkeit, Musik für verschiedene Zwecke sachgerecht zu gebrauchen. Erläuternd heißt es: „musikalische Kompetenz verstehen wir als aktive Auseinandersetzung mit Musik“.

Dies ist argumentativ falsch und inhaltlich tautologisch: musikalische Kompetenz als Fähigkeit der kompetenten Auseinandersetzung mit Musik. War es zuerst die Welterfahrung, so ist es jetzt wieder die Musik. Tautologisch ist diese Formel, weil sie die Bedeutung von Musik damit erklärt, dass die Beschäftigung mit Musik bedeutsam sei.

Musikunterricht ist meines Erachtens nur dann nachhaltig zu begründen, wenn der Zweck und Nutzen von Musik für ein Ziel, das außerhalb der Musik liegt, gefunden wird. Dies Ziel ist mit „Welterfahrung“ pathetisch und mit „Aneignung von Wirklichkeit“ handlungstheoretisch deutlich umschrieben und tätigkeitspsychologisch auch relativ stringent begründbar. Und dies Ziel provoziert die Aufgabe für uns Musikpädagogen zu beweisen, dass „Aneignung von Wirklichkeit“ mit musikalischen Mitteln nicht nur stattfinden kann, sondern auch stattfinden muss, weil die musikalische eine ganz genuine Aneignungsweise ist. - Das Konstrukt „Musikunterricht“ als Wirklichkeit der zweiten Art hat sich in jedem Fall von der Lebenswirklichkeit her zu legitimieren und keinesfalls von den Mitteln, die dort eingesetzt werden.

Woher kommt die Motivation musikalisch tätig zu sein?

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Abb. 3 Feldbeobachtung zur musikalischen Aneignung von Wirklichkeit durch Kinder.

Ersichtlich gibt es keinerlei Überlegungen zur Lernmotivation in dem von einer musikalischen Systematik ausgehenden Konzept von Kompetenzerwerb. Wie sollte ein Schüler „einsehen“, dass es ihm nützt, Intervalle rein zu singen oder Dorisch von Dur unterscheiden zu können? Der Rekurs auf wissenschaftliche Untersuchungen ist nicht überzeugend. Die musikpädagogischen Experimente zur Audiation haben nicht erforscht, ob Schüler Audiation gerne machen und was passiert, wenn sie die Sinnfrage stellen. Wenn die Argumentation Wilfried Gruhns überzeugen wollte, müsste er durch Feldbeobachtung feststellen, dass Kinder im Alltag sich musikalisch so betätigen, wie es die Theorie der Audiation besagt. Es ist interessant zu beobachten, wie Gruhn die Grenzen von „Feldbeobachtung“ an Kindern und Beobachtungen aus der künstlich inszenierten musikpädagogischen Forschung verwischt. Auf den Seiten 175 bis 183 des Buches „Der Musikverstand“ [viii] referiert Gruhn zunächst den ganzheitlich-explorativen Lernprozess von Kleinkindern. Unmerklich jedoch setzt ein systematisches Vor- und Nachsingen von Melodieteilen und Rhythmuspattern durch Lehrpersonen oder Versuchsleiter ein, das im „wirklichen“ Leben nicht stattfindet und das auch einen Bruch in der musikalischen Aneignung von Wirklichkeit durch Kinder darstellt. Kurz: Die Unterschiede von Lebens- und Unterrichtsrealität werden in der musikpädagogischen Forschung nicht getrennt, sondern miteinander vermischt.

Nehmen wir das im vorliegenden Aufsatz als Beispiel zitierte Lied vom „Drunken Sailor“. Dies ist ein Lied zur Arbeit, ein „Stamp’n Go“-Song,  ein Lied zur Koordination einer konkreten Tätigkeit [ix] . Die Matrosen eignen sich mit diesem Lied ihre Lebenswirklichkeit auf zweifache und musikspezifische Weise an. Zum einen konkret dadurch, dass die Musik ihre Arbeit koordiniert, sodass sie besser und leichter vonstatten geht. Zum andern aber auch psychologisch dadurch, dass die Matrosen mit dem Text etwas auf humorvolle Weise zum Ausdruck bringen, was die Tragik ihres Matrosenlebens bestimmt. Die musikalische Koordination erleichtert den physischen Teil der Arbeit, die Textinhalte und musikalischen Gesten lassen die Matrosen ihr stumpfsinnig-hartes Dasein psychisch ertragen.

Soll dies Lied im Musikunterricht erarbeitet werden, so muss es darauf ankommen, dass die Schüler erfahren, wie Musik auf jene zweifache – physische und psychische - Weise Arbeit „begleitet“. Dazu werden die Schüler beim Singen die charakteristischen Arbeitsbewegungen und das „Stampfen“ ausführen müssen. Das ist keine Pantomime oder Choreografie, das ist exakte und realistische Einfühlung in eine konkrete Tätigkeit. Zudem jedoch werden die Schüler sich in die psychologische Situation der Matrosen hineinversetzen müssen. Dies kann im Klassenzimmer nur durch Rolleneinfühlung und sodann im Schutz der Rolle geschehen [x] , da Schüler ja keine wirklich arbeitenden Matrosen sind. Die Projektion der schülerspezifischen Interpretation des Liedes auf diese fremde Rolle geschieht automatisch und ist Ausgangspunkt der aneignenden Verarbeitung der musikalischen Erlebnisse in der (szenischen) Interpretation.

Die beiden Unterrichtsvorschläge des vorliegenden Programms [Ms. Seite 18-19] stehen, sofern man die genannten Ziele verfolgt, auf dem Kopf. Stimmübungen oder dorische Audiationen entfernen die Schüler von der Art und Weise, wie Matrosen das Lied gesungen haben: ungehobelt, rau, richtig falsch, salzig, geschrieen, gestresst, außer Atem und mit einem durch das Stampfen bestimmten „Ausdruck“, zugleich – inhaltlich bedingt - mit Grölen und Lachen, mit drastischen Handbewegungen. Keine Rolle spielen bei der musikalischen Aneignung von Wirklichkeit die „Arbeit am Stimmausdruck“, die „richtige Intonation“ oder der Unterschied von Dorisch und Dur.

Ich habe daher die Kategorie der „Singhaltung“ [xi] vorgeschlagen. Dies ist ein Singen, das den Gestus (die „Haltung“) eines Stücks Musik ganzheitlich zu erfassen sucht, ohne Stimmbildung oder Intonation. Erfahrungsgemäß singen Kinder, Schüler und Erwachsene, die vorgeben unmusikalisch zu sein und niemals solistisch singen würden, auf diese Weise mit Begeisterung und Engagement so, dass alle Fragen nach konventionellem Richtig und Falsch gegenüber Faszination und Ergriffenheit verstummen. Und sie singen sogar sehr überzeugend atonale Musik (beispielsweise aus Alban Bergs „Wozzeck“), von der viele Profis gesagt haben, sie sei „unsingbar“.

Die Handlungen 1 bis 7 der Unterrichtsvorschläge im vorliegenden Aufsatz zum Lied vom „Drunken Sailor“ sind typische Konstrukte von Musikpädagogen, die die Lebensrealität „Musikunterricht“, nicht jedoch die „wirkliche“ Lebensrealität – weder die der Matrosen noch die der Schüler – widerspiegeln. Mit ihnen lässt sich nur das aneignen, was um Stundentafeln besorgte Musikpädagogen sich ausgedacht haben, um dem Lernfach Musik eine unter dem Druck von PISA angemessenes Gewicht zu verleihen. Hier wird Musikunterricht an einer nach den Prinzipien der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft ausgerichteten Nützlichkeitsüberlegung ausgerichtet. Ich prophezeie, dass dieser Versuch misslingt, weil alle Bildungspolitiker, für die Musik ein Mittel zur Aneignung von Lebensrealität ist, den Braten riechen und mit Recht sagen werden: das ist Musikpädagogik aber nicht Musik! Solche Bildungspolitiker werden sogar Adorno zitieren können, ohne sich den Mund zu verbrennen.

Taktisch klug, aber dennoch ein Konstrukt

Ich verstehe die Diskussion um musikalische (Grund-)Kompetenzen, wie schon gesagt, als eine taktische und nicht als eine Diskussion, die MusiklehrerInnen heute in der Unterrichtspraxis helfen soll und kann. Taktisch ist sie insofern als - wenn sie die Bildungspolitiker überzeugen würde und tatsächlich durchsetzbar wäre - sie die zusammenbrechenden Musik-Stundentafeln retten könnte. Die Diskussion hilft sicherlich nicht all jenen MusiklehrerInnen, die sich darüber Gedanken machen müssen, wie sie bis zur Oberstufe hinauf „voraussetzungslosen“ Musikunterricht von hohem Niveau mit heterogenen Lerngruppen organisieren können. Für diese Fälle gibt es zahlreiche aktuelle Konzepte, die im vorliegenden Aufsatz keine Rolle spielen, zum Beispiel Musikproduktion mit technischen Mittlern oder szenische Interpretation oder arbeitsteilig angelegter Projektunterricht, der auf musikalische Kompetenzen, die außerhalb der Schule erworben werden, rekurriert.

orffkinder
Abb. 4 Kindergesichter, wie die Musikpädagogik sie sich wünscht (Orff in den USA).

Das vorliegende Programm ist wie die mehrfach zitierten US-National Standards [xii] zu allererst ein Programm für systematischen Musikunterricht und damit ein Strategiepapier für die Einstellung bzw. Beschäftigung von MusiklehrerInnen. Im Gegensatz zu den in deutschen Landen erlassenen Rahmenrichtlinien haben die National Standards nur empfehlenden Charakter. Und wie die deutschen Rahmenrichtlinien sagen sie wenig über die Realität des Musikunterrichts aus. Die National Standards können, sie müssen aber nicht befolgt werden. Ihre Autoren stammen aus den Reihen der Musiklehrerverbände und sind nicht staatliche Behörden, auch wenn letztere Empfehlungen aussprechen können. Im Sommer 2003, neun Jahre nach dem ersten National Standard-Konzept, sagte mir einer der Mitautoren und Supervisoren der National Standards, dass heute das Konzept weiter von seiner Realisierung entfernt sei als je zuvor. Die National Standards seien häufig nicht realisiert worden, weil überall – außer an den Schulen, die ausländischen Musikpädagogen gezeigt werden – die materiellen und personellen Voraussetzungen mangelhaft sind. Zudem ist das US-Schulsystem im Gegensatz zum deutschen wie eine Pyramide aufgebaut: ungewöhnlich viel und integriertem elementarem Musikunterricht in den untersten Klassen folgt zunehmend weniger Klassenunterricht in der Mittelstufe. Und in der Oberstufe gibt es fast nur noch Brass-Bands und Brass-Orchester, die "westliche" Orchestermusik in Blas-Bearbeitungen spielen. Der Mittelstufenunterricht zielt faktisch auf jene SchülerInnen ab, die in diese Bands gehen oder gehen wollten. Letzteres ist mit hohem Prestigegewinn verknüpft, aber auch großem Einsatz, da die Bands oft wöchentlich bei den Football- und anderen Wettkämpfen aufspielen müssen. Als „Programm“ für einen deutschen Musikunterricht sind die National Standards für Musik (vor allem mit ihrem „Gordon“-Teil) auch deshalb nicht geeignet, weil sie nur ein Teil des Art-Programms sind, das Tanz, Theater, Musik und Kunst umfasst. Der Musikunterricht hat hier einen anderen (engeren) Stellenwert.

Diese Entwicklung zeigt, dass die National Standards als taktisches Programm nicht das Ziel erreicht haben, das sie erreichen sollten. Ob sie die musikalische Volksbildung in USA ansatzweise gesteigert haben, mag ebenfalls bezweifelt werden. Ein Hochschullehrer klagte mir vor kurzem, dass er nicht wisse, wie er seinen KlavierschülerInnen – wohl gemerkt solchen, die BerufspianistInnen werden wollten – "westliche" Musikgeschichte beibringen soll, wenn diese nicht einmal wissen, wo Paris liegt. Derart zunächst geografische Orientierungslosigkeit erweist sich als kulturelle Skrupellosigkeit, wenn verantwortliche Militärs in Bagdad „Weltkulturerbe“ als eine Ware betrachten, die geraubt und (illegal) verkauft werden kann.

An anderer Stelle habe ich die National Standards mit ihrem Versuch, die Multicultural Music Education in den am Angloamerikanismus ausgerichteten Kodaly-Orff-Gordon-Schulwesen [xiii] der USA zu revidieren, als sehr fortschrittlich begrüßt [xiv] . In diesem Punkt nämlich orientieren sich die National Standards an der Wirklichkeit der US-amerikanischen Gesellschaft und den kulturpolitischen Problemen, zu deren Lösung Musikunterricht einen Beitrag leisten kann. In diesem Punkt wird die Orientierung an der Musik aufgegeben und durch eine Orientierung an der gesellschaftlichen Realität ersetzt (bzw. im Ganzen gesehen ergänzt). Nun ist nicht mehr „Musik lernen“ angesagt, d.h. die Aneignung von Musik, sondern die musikalische Aneignung von Wirklichkeit.

Aus dieser Sicht resultiert meiner Meinung nach einerseits die schwierige Aufgabe für die Musikpädagogik, den Beitrag von Musik zu einer un-musikalischen Leistung zu beweisen. Zugleich verspricht nur diese Sicht Aussicht auf Erfolg, da sie nicht mit dem Zirkelschluss operiert, dass „Musik lernen“ wichtig und gut sei, weil „Musik können“ wichtig und gut ist.

Dass der 2. Teil des vorliegenden Programms sich der „Kurve“ hin zu dieser Sichtweise nähert, spricht nur dafür, auch den 1. Teil einer konsequenten Revision zu unterziehen.

Bildnachweis:

Abbildung 1-3 Stroh

Abbildung 4 aus Hackett/Lindeman (Fußnote 12), S.70, „Courtesy of Music Educators National Conference“

Anmerkungen (Endnoten)

[i] Helmut Moog: Das Musikerleben des vorschulpflichtigen Kindes. Schott Mainz 1968, S. 38-40.

[ii] Heiner Gembris: Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung. Wissner Augsburg 1998, S. 309-316.

[iii] Wolfgang Martin Stroh: Scheitern kann zum Durchbruch verhelfen. In: nmz 5/1988, S. 48. Ders.: Der JBPK 2000 [= der jugendbewegt pädagogische Körper 2000]. In: Aspekte gegenwärtiger Musikpädagogik, hg. von Wulf Dieter Lugert und Volker Schütz. Metzler, Stuttgart 1991, S. 218-225.

[iv] „Musiklernen“ bezeichnet im Gegensatz zu „Musik lernen“ die von den Autoren programmatisch eliminierte Dialektik von „[die] Musik lernen“ und „durch Musik lernen“.

[v] Theodor W. Adorno: Kritik des Musikanten. In: Dissonanzen, Göttingen 1956, S. 69.

[vi] Wolfgang Martin Stroh: „Ich verstehe das, was ich will“ Handlungstheorien angesichts des musikpädagogischen Paradigmenwechsels. In: Musik und Bildung 3/1999, 8-15.

[vii] Alexander N. Leontjew: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Moskau 1975; gekürzt: Klett-Verlag Stuttgart 1977.

[viii] Olms-Verlag, Hildesheim etc. 1998. Text aus: Musikpädagogische Forschungsberichte 1996.

[ix] Fichter, Christel u.a.: UE-Shanties. ADM-Verlag, Münster 1974, S.5-6. Modifizierter Abdruck in: Irmgard Merkt: Haste Töne.  Musik zum Selbermachen. Weismann-Verlag, München 1981, S. 48-49.

[x] Entsprechende Methoden in Brinkmann, Rainer O. u.a.: Methodenkatalog der szenischen Interpretation von Musiktheater. Lugert-Verlag, Oldershausen 2001.

[xi] Z.B. in Ralf Nebhuth/Wolfgang Martin Stroh: Carmen. Institut für Didaktik populärer Musik, Oldershausen 1990, S. 26, 32-33.

[xii] Ich beziehe mich auf die „Urfassung“ 1994 (ISBN 1-56545-036-1) und das zugehörige Lehrbuch für die Musiklehrerausbildung von Patricia Hackett und Carolyn A. Lindeman. (dritte aufgrund der National Standards revidierte Ausgabe von 1994, ISBN 0-13-123258-4).

[xiii] Die Ergänzung durch Monterossi und Dalcroze ist eher marginal.

[xiv] Wolfgang Martin Stroh: „eine welt musik lehre“ – Begründung und Problematisierung eines notwendigen Projekts. In: Musikpädagogische Forschung 21, S. 143-144.