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Musik-Verstehen als Aneignungsprozess

Die Konsequenzen einer psychologischen Theorie für die Musiklehrertätigkeit

1. INTRO

Vor kurzem habe ich einen Aufsatz geschrieben habe, der den Titel „Ich verstehe das, was ich will!" trug. Mit diesem Satz sollte eine SchülerIn gegen das herkömmliche Verständnis von Musik-Verstehen protestieren. Dieser Protest enthält zwei Aspekte:

Ziele verfolgt und Motive hat.

Zielgerichtetheit und Motiviertheit stecken in dem Wörtchen „will".

 Musik-Verstehen, wie es dieser Satz beschreibt, ist eine zielgerichtete Handlung, deren Ergebnis von der Motivation abhängt.

Machen wir uns die Tragweite dieses Satzes klar! Je nach Motivation „versteht" ein Mensch Musik unterschiedlich. Die Faktoren Bildung, Können, Fertigkeit, Musikalität, Informiertheit oder Training sind zwar nicht außer Kraft gesetzt. Ihre Bedeutung für das Musik-Verstehen ist jedoch erheblich eingeschränkt durch den „Willen", durch die Motivation. Üblicherweise wird Motivation als eine eher quantitative Voraussetzung für Handeln gesehen. Die Motivation ist groß oder gering oder gleich Null... Die Vorstellung aber, dass Motivationen Inhalte haben und die Ergebnisse einer Handlung beeinflussen können, ist ungewöhnlich und für die Pädagogik schwer zu akzeptieren.

Aus solch einem Verständnis von Musik-Verstehen ergeben sich folgende drei Fragen:

2. THEORIE I: MOTIV UND HANDLUNG

 In der Psychologie musikalischer Tätigkeit, die auf Leontjews „Tätigkeitspsychologie" zurückgeht, wird zwischen Ziel und Motiv sowie zwischen Handlung und Tätigkeit unterschieden.

Fall 1
Fasst man eine bestimmte Tätigkeit ins Auge, so „hat" diese ein Motiv - „Tätigkeit" ist bei Leontjew definiert durch das Vorhandensein eines Motivs - und wird durch Handlungen „realisiert". Jede Handlung hat ein Ziel. Das bedeutet: ein Motiv führt zu mehreren Zielen und zielgerichteten Handlungen.

Beispiel 1 ein Motiv mit mehreren Handlungen: Möchte ein Mädchen gerne als Sängerin berühmt werden, so ist zu zu einem ganzen Bündel von Handlungen motiviert. Sie wird (1) Gesangsunterricht nehmen, aber auch (2) nach einem Manager Ausschau halten und (3) ihr äußeres Erscheinungsbild modisch formen, weil sie weiß, dass Singen alleine nicht zum Erfolg führt.

Beispiel 2 hohe Motivation führt nicht zwangsläufig zu zielgerichteten Handlungen: Viele Jugendliche sind hochgradig motiviert, Musik zu machen, um als Sängerin oder als Keyboarder oder DJ auf der Bühne zu stehen und die Aufmerksamkeit eines Publikums auf sich zu ziehen. Doch aus dieser Motivation läßt sich keineswegs automatisch zielgerichtetes Handeln ableiten. Weder zu Stimmbildung oder Gesangsunterricht, noch zu Fingerübungen auf den Tasten oder zum Studium von Scratchtechniken. Erst wenn eine ganze Reihe zusätzlicher Bedingungen erfüllt sind, können aus Motiven zielgerichtete Handlungen abgeleitet werden.

Fall 2
Betrachtet man eine bestimmte zielgerichtete Handlung, so kann diese theoretisch unterschiedliche Tätigkeiten realisieren. (In der Praxis realisiert sie immer nur eine!) Ein einzelnes Ziel verweist auf mehrere Motive.

Beispiel 3 eine Handlung mit „Motivkonflikten": Wenn eine Musiklehrerin mit einer Musik-AG probt, dann verfolgen alle Beteiligten zwar ein gemeinsames Ziel, nämlich die Einstudierung eines Musikstückes. Die Motive der SchülerInnen sind aber unterschiedlich. Während die einen die Musik-AG besuchen, um am Jahresende das Erarbeitete vor der Schulöffentlichkeit vorspielen zu können, sind die anderen da, um mit ein paar Freunden zusammen zu sein, eine sinnvolle Freizeit gemeinsam zu verbringen und soziale Kontakte zu pflegen. Im Idealfall können diese unterschiedlichen Motive alle unter dasselbe Ziel subsumiert werden. Jede Lehrerin weiß aber, dass es auch Konflikte geben kann, die aus solch unterschiedlichen Motivationslagen resultieren: Soll man solange proben, bis auch die kleinsten Intonationsprobleme beseitigt sind? Welche musikalischen Zugeständnisse muß man als Profi machen, um die gute Stimmung in der Gruppe nicht zu verderben?

Die Motiv-Suche eines Richters in einem Strafverfahren ist ein weiteres Beispiel. Auch wenn die „Tat", also die Handlung, allen klar vor Augen steht, ist das Motiv meist unklar. Die gerichtliche Motiv-Suche verweist auf das größte Problem der psychologischen Tätigkeitsanalyse. Während Handlungen mit ihren Zielen beobachtbar sind, müssen die Motive der Tätigkeit, die diese Handlungen realisieren, aus „Indizien" erschlossen werden. Motive kann man nicht abfragen oder unmittelbar sehen. Daher sind die meisten empirischen Forschungsverfahren auch unfähig, Motive zu finden. Sie klammern die Motiv-Suche folgerichtig in der Regel aus und stellen „Korrelationen" fest, also statistisch signifikantes Zusammentreffen von Erscheinungen. Motive sind selbst der qualitativen Empirie schwer zugänglich, weil sie auch den Handelnden nicht immer bewußt sind.

Im Grund schließt die Musiklehrerin laufend aus „Indizien" auf Motive und versucht dann, die Unterrichtshandlungen geeignet zu gestalten. Fliegen beispielsweise bei einer Liedeinstudierung Papierkügelchen durch die Luft, so kann die Musiklehrerin auf „Bewegungsdrang" schließen und eine Rhythmus- oder Tanz-Phase einlegen. Diese Indizien-Beweisführung ist richtig, wenn die Lehrerin annehmen kann, dass die Schüler eine grundsätzlich nicht-destruktive Einstellung dem Musikunterricht gegenüber haben und nur im konkreten Fall „überfordert" waren. Fliegen jedoch auch in der Rhythmus- oder Tanz-Phase wieder Papierkügelchen, so war die Indizien-Beweisführung falsch. Die Lehrerin muß neue Annahmen treffen... beispielsweise die, dass der Musikunterricht die Schüler generell „nervt".

Im Beispiel der Papierkügelchen ist offensichtlich die Frage, welche Handlung geeignet ist, vorliegende Motive zu realisieren. Die Tatsache, dass die Lehrerin zwischen mehreren Handlungen - Liedeinstudieren, Rhythmusübung, Tanzen - wählen muß, verweist auf eine gewisse Unflexibilität der Handlungen selbst. Denkbar wäre ja auch Liedeinstudierung auf der Basis von Rhythmusübungen in Verbindung mit Tanzen...

Die kurze Merkformel lautet: Motive bestimmen die Tätigkeit, Handlungen realisieren die Tätigkeit. Die Ziele der Handlungen realisieren in diesem Sinne also die Motive.

3. UNTERRICHTSBEISPIEL I

Es gibt Unterrichtshandlungen, die so flexibel sind, dass sich eine motive-abhängige „Handlungsregulation" einstellt. Ich zeige Ihnen den Videomitschnitt einer Unterrichtsstunde in einer recht schwierigen 7. Klasse. Die Schüler sollten den „Rumble" aus der West Side Story spielen. Die Klasse war in drei Gruppen unterteilt: die Jets, die Sharks und Beobachterinnen. Die Lehrerin verlas Spielanweisungen, denen die Schüler folgen sollten. Zuvor hatten die Schüler durch „Schattenboxen" geübt, wie sie miteinander kämpfen können (und sollen), ohne sich gegenseitig zu berühren.

Sie sehen, wie in diesem Unterricht zentripetale und zentrifugale Kräfte am Werk sind. Zentripetal ist der überwiegende Grundkonsens der Schüler, den Rumble ordentlich ablaufen zu lassen, die „Spielregeln" einzuhalten und ein ansehbares „Theaterstück" zu vollführen. Schließlich gab es ja auch Beobachterinnen, die nachher das Spiel beurteilen sollten. Die Tatsache, dass diese Art des Spielens für die Schüler ungewöhnlich und neu war, setzte aber auch zentrifugale Kräfte frei. Immer wieder verwischen sich Spiel und Realität, wird der gespielte Kampf zu einem realen Rumtoben oder fallen Schüler aus ihrer Rolle heraus. Dennoch hat das hier gezeigte szenische Spielen derart viele die Schüler faszinierende Momente, dass die zentrifugalen Kräfte nur punktuell auftreten und dann sogar produktiv wirken. Oft sind es Mitschüler, die einen Spieler, der auszuflippen droht, wieder ins Spiel hineinholen.

„Guter Unterricht" im tätigkeitspsychologischen Sinne ist nicht ein perfektes Spielen, bei dem alles klappt und es keinerlei Störungen gibt. Guter Unterricht ist vielmehr eine flexible und offene „Inszenierung", bei der alle unterschiedlichen Motive in ziegerichteten Unterrichtshandlungen „aufgefangen" werden.

Während solch ein „Auffangen" in der klassischen Leontjew’schen Theorie meist als Handlungsregulation bezeichnet wurde, finde ich den Aspekt wichtiger, dass sich hier Motive weiter entwickeln. Etwa nach der - zugegebenermaßen grob formulierten - Formel:

  • Bewegungsdrang wird zu szenischem Spiel,
  • Störung wird zu Beteiligung am gemeinsamen Spielablauf,
  • zentrifugale Kräfte werden zu zentripedalen.

Mit dieser theoretischen Erörterung ist in Verbindung mit den als „Beweis" angeführten praktischen Beispielendas Verhältnis von Motiv und Handlung geklärt und somit die erste Frage aus dem INTRO beantwortet.

4. THEORIE II: INHALT DER MOTIVE

 Während ich bisher nur die formale Struktur der Lehr- und Lerntätigkeit gesprochen habe, stellt sich nun die Frage: was ist der Inhalt

  • der musikalischen Tätigkeit und der Lerntätigkeit des Schülers,
  • der musikalischen Tätigkeit und der Lehrtätigkeit der Lehrerin?

Die allgemeine Lösungsformel der Psychologie musikalischer Tätigkeit für diese Frage ist der Satz:

Lerntätigkeit ist (wie alle Tätigkeit) eine „Aneignung von Wirklichkeit".
Musik-Verstehen realisiert eine musikalische Aneignung von Wirklichkeit

Die klassische Vorstellung von Wirklichkeitsaneignung durch Musik - etwa der Widerspiegelungstheorien zwischen Antike, Hegel und Marx - war, dass Musiker oder Komponisten sich soziale Wirklichkeit „in" oder „durch" Musik aneignen. Die HörerInnen haben bei diesem Prozess die Aufgabe, einen bereits vollzogenen Aneignungsvorgang nachzuvollziehen und auf ihre eigene Situation zu übertragen.

So hat beispielsweise das ZDF eine Passage aus Beethovens „Siebter" verwendet, um Vorgänge beim Fall der Berliner Mauer von 1989 zu kommentieren. Beethoven hatte in dieser Musik ein emanzipatorisches „Zeitgefühl" mit einem musikalischen Gestus wieder gegeben und damit „angeeignet". Die ZDF-HörerInnen sollten nun diesen Gestus auf den Fall der Mauer und die dabei hervorbrechenden Gefühle der Menschen übertragen.

Video 2: ZDF-Bericht zum 12.11.1989

Dies Beethovenbeispiel zeigt bereits, dass die klassische Aneignungs- oder Widerspiegelungstheorie die wirklichen Kommunikationsprozesse nur unvollständig beschreiben kann. Vor allem kann sie ideologisch-manipulative Absichten nicht erkennen. Hinterfragt man die ZDF-Sendung mit Beethovens „Siebenter" im Hinblick auf die Motive der Beteiligten, so wird aus dem einfachen Widerspiegelungs-Schema in etwa folgendes Schema, Folie 4:

schema

Die Motivanalyse provoziert viele Fragen, die pädagogisch relevant sind (und übrigens genau den Punkt betreffen, in dem die deutschen Schüler bei der PISA-Studie versagt haben): Beethovens „Siebte" ist heute, wenn sie von Baremboim gespielt und vom ZDF als Filmmusik eingesetzt wird, nicht mehr die, die Beethoven komponiert und das Beethovenpublikum, gehört hat...

5. PRAXIS II: MOTIVE UND TAETIGKEITEN

Jugendliche haben Methoden der Aneignung von Wirklichkeit entwickelt, die von den Komponisten oder Musikern oder Produzenten nicht intendiert war. Das eindringlichste Beispiel ist das Zappen, bei dem Fernseh- oder Rundfunksendungen scheinbar sinnwidrig zerschnitten und zu einem neuen Gesamtkunstwerk aneinander gereiht werden.

Wir können davon ausgehen, dass Jugendliche (und mittlerweile auch Erwachsene) Kultur- und Bildungsangebote ebenfalls „zappend" wahrnehmen. Die Stundentafeln, die Aufteilung in Schulfächer und auch moderne Schulbücher begünstigen eine „zappende" Rezeption von Schule durch die Schüler. Sehen Sie sich die Veränderungen an, die alle Verlage mittlerweile mit ihren Musikbüchern vorgenommen haben! Wäjrend früher Musikbücher gleichsam durchgehend konstruierte Texte gewesen sind, präsentieren sie jetzt eine Abfolge von 2-seitigen, in sich geschlossenen „Reiz-Einheiten". Vor 12 Jahren sagte man mir bei der Diskussion in einem Schulbuchverlag: Wenn Schüler das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlagen, muß ihnen eine optisch sowohl ausgewogene als auch attraktive Doppelseite entgegenblicken, ein in sich und voraussetzungslos verständlicher Text, eine Lernheit für 45 Minuten, ein Anreiz zum Blättern und Schmökern.

Die musikalische Aneignung von Wirklichkeit ist ein Vorgang, der vor allem von der Jugendkulturforschung gerne untersucht wird. Die Jugendsoziologie und -psychologie kennt eine Reihe von Motiven musikalischer Tätigkeit Jugendlicher, die sie als spezifische Aneignungsweisen interpretiert, unter anderen:

  • Abgrenzung von Erwachsenen,
  • Rückzug ins Private,
  • Peergruppen-Bezug,
  • Ich-Identitätsbildung,
  • symbolische Repräsentation eines industriellen Lebensstils (Integration),
  • symbolische Repräsentation eines individuellen Lebensstils (Abgrenzung)
  • Bewußtseinsveränderung und Realitätstranszendierung.

Wir müssen Musik-Verstehen als Handlungen interpretieren, deren Ziele einige oder mehrere dieser Tätigkeitsmotive realisieren. In diesem Reigen von Motiven muß sich auch die Lerntätigkeit in der Schule behaupten.

6. PRAXIS III: ALLGEMEINE KONSEQUENZEN

Die musikbezogene Lerntätigkeit in der Schule kann sich dadurch auszeichnen und von anderen musikalischen Tätigkeiten abheben, dass sie durch

  • bewußte,
  • aktive und
  • selbstbestimmte

Handlungen realisiert wird. (Dieser Aussage liegt die Annahme zu Grunde, dass die alltäglich-außerschulischen Handlungen oft unbewußt, passiv und fremdbestimmt sind.) Das schulische Musik-Verstehen ist - diesem idealtypischen Ansatz zufolge - dadurch charakterisiert, dass es „lebensweltbezogene" Tätigkeitsmotive auf eine spezifische Weise realisiert.

Das Besondere der Schule liegt nicht darin, dass die Musiklehrerin eine Art Gegenwelt präsentiert, die Jugendlichen mit dem moralischen Anspruch der Toleranz zum Vergessen ihrer Motive nötigt oder irgendwelche vorübergehenden Stillhalteabkommen trifft oder aber aktionistisch Probleme mittels des Spaßprinzips löst. Das Besondere liegt darin, dass in der Schule unter Anleitung eines Musik-Profis und bei relativ guter Ausstattung (an Instrumenten, Räumen, Geräten) gemeinsam aktiv, bewußt und jenseits aller Fremdbestimmung musikalische Handlungen stattfinden können.

Also zur dritten Frage der INTRO: Was können wir als MusiklehrerInnen tun?

Vorab ein paar klärende Feststellungen:

Die „Wirklichkeit", die in unserem idealtypischen Musikunterricht bewußt, aktiv und selbstbestimmt angeeignet werden soll, ist sowohl die außer- als auch die innerschulische Wirklichkeit.

Kommentar: Viele musikpädagogische Konzepte, die sich „schülerorientiert" nennen oder den „Lebensweltbezug" betonen, ignorieren, dass das „Leben in der Schule" einen ganz gewichtigen Teil der Lebenswirklichkeit von SchülerInnen darstellt. Und diese Wirklichkeit ist weitgehend „inszeniert", sie ist künstlich-artifiziell, regelgeleitet und „verdammt Ernst" zugleich. Hartmut von Hentig hat versucht, mit seinen Bielefelder Schulprojekten, denen ich persönlich die hier ausgebreitete Tätigkeits-Theorie letztendlich verdanke, eine Schule als Lebensraum zu schaffen. Ingo Scheller, dessen erfahrungsorientierter Unterricht die didaktische Grundlage meines Konzepts der szenischen Interpretation von Musik darstellt, geht davon aus, dass die wichtigsten „Erlebnisse", auf die sich Erfahrungslernen beziehen kann, in der Schule, im Unterricht selbst stattfinden (müssen). Die außerschulische Wirklichkeit werden die Schüler bei entsprechender Flexibilität und Offenheit der schulischen Wirklichkeit ganz „von selbst" hereintragen. Bei der szenischen Interpretation haben sich diese Gedanken meines Erachtens voll bestätigt.

Die konkreten Unterrichtsinhalte spielen für die Wirklichkeitsaneignung eine erheblich geringere Rolle als gemeinhin angenommen.

Kommentar: Das Hauptaugenmerk aller Lehrplangestalter liegt auf den Unterrichtsinhalten. Ganz zu Unrecht. Für die Lerntätigkeit ist wichtiger, wie die Schüler im Unterricht mit den Inhalten umgehen. Die meisten Inhalte sind vieldimensional und bieten eine „Form", innerhalb derer Musik-Verstehen im Sinne einer Wirklichkeitsaneignung stattfinden kann. Und umgekehrt hat die Erfahrung gezeigt, dass moderne, modische und jugendnahe Inhalte mitnichten irgendeine Garantie für Unterrichtserfolg und Lerntätigkeit sind.

Bei der Methode der szenischen Interpretation werden ungewohnte Inhalte, zum Beispiel fremdartige Lied-Sujets oder außergewöhnliche Verwendungszusammenhänge von Musik, dazu benutzt, den sog. Rollenschutz zu gewähren. Ängste, Hoffnungen oder tabuisierte Themen, die üblicherweise im Unterricht nicht geäußert werden, können auf diese Weise in Verbindung mit Musik artikuliert und aufgearbeitet werden. Dies Rollenschutz-Phänomen ist Kindern und Jugendlichen keineswegs fremd. Im angesagten Musikbetrieb wird ständig mit Rollenschutz gearbeitet, werden Rollen übernommen, gebrochen, verändert, ironisiert und im richtigen Moment abgelegt. Bei den meisten Spielen - von der Sandkiste über den Spielplatz bis zum Gameboy - übernehmen Kinder und Jugendliche bei vollem Bewußtsein und in gezielter Absicht Rollen.

Die Lehrtätigkeit besteht darin, die Lerntätigkeit der Schüler zu „inszenieren". Der Inhalt oder - kurz gesagt - die Musik spielt dabei eine vermittelnde Rolle. Die jeweilige „Inzenierung" kann aber - im Gegensatz etwa zur Opernregie - nicht aus der Musik alleine abgeleitet werden.

Kommentar: Diese Aussage ist hart, aber konsequent (und richtig). Im Klartext heißt dies ja, daß Prozesse von „Musik-Verstehen", wie wir es definiert haben, nicht aus der Musik alleine abgeleitet werden können. Zugespitzt bedeutet solcherart Musik-Verstehen, dass die Schüler die Musik dadurch funktionalisieren, dass sie tätig sind, ihre Motive realisieren und sich Wirklichkeit aneignen. Sie wollen nicht im herkömmlichen Sinne Musik verstehen: weder interessiert sie, was der Komponist sagen wollte, noch interessiert sie, dass Musik Bildung oder Kultur ist. Schüler wissen aber genau, dass zur befriedigenden Erledigung bestimmter Aufgaben Fertigkeiten, gegebenenfalls Übung und Ausdauer, eine professionelle Anleitung, Wissen, Kentnisse und Fähigkeiten von Nutzen sind. Vorausgesetzt, die Aufgabe leuchtet ein - und das hieße, dass sie der Aneignung von Wirklichkeit dient.

Die Lehrerin gibt zwar den Inhalt (die Musik), die Rahmenbedingungen und die Spielregeln vor. Sie gibt aber nicht vor, was die Schüler lernen bzw. wie sie Musik „verstehen" sollen. Gegenüber einem herkömmlichen Unterrichtsverlauf, in dem Informatiosvermittlung, Kleingruppenarbeit, gemeinsames Musizieren und Diskussionsrunden sich abwechseln, erscheint das, was eine „inszenierende" Lehrerin macht, erheblich rigider und strenger durchorganisiert. Wenn die Spielregeln formuliert sind, muß auch auf deren Einhaltung geachtet werden. Dies scheint „autoritär" zu sein, wird aber von den Schülern akzeptiert, weil das Spielen nach Regeln eine alltägliche Selbstverständlichkeit ist. Ausnahmen treten nur auf, wenn der gesamte Arbeitsrahmen in Frage gestellt wird und gesprengt werden soll - so als ob ein Fußballspieler durch Verletzung der Regeln den Unsinn von Fußball beweisen wollte. Das Einhalten von Spielregeln garantiert in unserem Fall aber gerade die Freiheit des Musik-Verstehens und ist insofern das Gegenteil von „autoritär".

PRAXIS IV: SZENISCHE INTERPRETATION

Ich möchte im folgenden die Methode der szenischen Interpretation unter den Fragestellungen, wie hier Musik-Verstehen im Sinne der Psychologie musikalischer Tätigkeit stattfindet, kurz vorstellen. Obgleich das hervorstechendste Merkmal der szenischen Interpretation das szenische Spiel, also das „Lernen mit dem ganzen Körper" ist, möchte ich heute das Augenmerk auf die Frage legen, ob und wie in der szenischen Interpretation Aneignung von Wirklichkeit in musikbezogenen (Lern-) Handlungen stattfindet, die

  • bewußt,
  • aktiv und
  • selbstbestimmt

sind. Einige Wesenszüge der Methode, die ein mittlerweile sehr verzweigtes Repertoire an Spielverfahren und -regeln umfasst, möchte ich heute an einem Beispiel demonstrieren. Im morgigen Workshop werde ich dann einige Verfahren konkret „durchspielen". Sehen wir uns nochmals den „Rumble" aus der West Side Story an, nunmehr in einer etwas präziseren Version, die SchülerInnen der 11. bis 13. Klasse extra für einen Lehrfilm produziert haben. Die SchülerInnen kannten weder die West Side Story noch die szenische Interpretation. An einem Samstag wurde eine 6-teilige Unterrichtseinheit im wesentlichen so durchgespielt, wie es in einem 6-wöchigen Unterricht sein könnte.

Im Zentrum der szenischen Interpretation, die Sie sogleich sehen werden, steht das szenische Durchspielen des Rumble, das entlang von kleinschrittigen Spielanweisungen so geübt worden war, wie es das erste Video aus der 7. Klasse zeigte. Entscheidend für die Lerntätigkeit ist der Zusammenhang, in den dies szenische Spiel eingebettet ist und den ich kurz schildern muß:

Die Unterrichtseinheit beginnt mit einer ausführlichen Einfühlung in die Jugendgruppen (Jets und Sharks) sowie in die einzelnen Rollen. Dieser Prozess dauert mindestens 3 Doppelstunden. Als direkte spieltechnische Vorbereitung der Rumble-Szene wird Schattenboxen geübt. Die SchülerInnen bereiten sich auf die Szene vor, indem sie eine Phrase aus „Tonight" individuell interpretieren (Erwartungen an die Nacht). Vor Betreten der Spielfläche werden alle Schüler nochmals einzeln vom Spielleiter befragt. Dies heißt in der Fachsprache „Einfühlung in die Szene". Die Schülerinnen sitzen als Beobachterinnen am Rande (können gegebenenfalls auch ins Spiel eingreifen, was hier aber nicht passiert). Dann wird die Szene - gegebenenfalls mehrfach - durchgespielt. Die Schüler agieren aufgrund der vom Spielleiter gesprochenen Sätze improvisierend. Beim Pfiff des Spielleiters gehen alle Spielenden, sofern sie nicht tot sind, „in Deckung". Einige Stühle markieren die Pfeiler der Autobahnbrücke. Anschließend führt der Spielleiter eine Befragung in der Rolle durch (= Ausfühlung aus der Szene). Nach dieser Ausfühlung findet nochmals eine Feedback-Runde statt.

Inwiefern sind die Schüler hier bewußt, aktiv und selbstbestimmt tätig?

„Bewußt": Hierzu zwei Beispiele. (1) Bei der Vorbereitung auf den Rumble in Form der Übungen zu „Tonight" experimentieren die Schüler mit unterschiedlichen „Haltungen", die sich musikalisch darstellen lassen. Sie machen sich dabei bewußt, wie ein und dieselbe Musik unterschiedliche Haltungen zum Ausdrtuck bringen kann. (2) Etwa in der Mitte die Szene „Unter der Autobahn" („Rumble") setzt Musik ein. Das Spiel der Schüler verändert sich, sobald die Musik einsetzt. Die Musik übt eine Wirkung auf die Schüler aus. Bei jeder Besprechung der Szene kommen die Schüler auch auf diesen Musikeinsatz und die dadurch ausgeübte Wirkung zu sprechen.

Die szenische Interpretation setzt das Spielen also nicht ein, um das Bewußtsein auszuschalten. Im Gegenteil. Eines der wichtigsten Ziele des Spielens ist es, dass Schüler Eigenschaften von Musik bewußt erleben. Die Spielverfahren sind Erlebnisse und Verarbeitung von Erlebnissen zugleich. Aus solch einer Verarbeitung von Erlebnissen entstehen Erfahrungen. Und das ist Lernen.

„Aktiv": Dass die szenische Interpretation eine aktive Auseinandersetzung mit Musik beinhaltet, ist selbstverstädlich. Sie zeigt übrigens auch, dass die aktive Auseinandersetzung mit Musik nicht immer das Spielen von Instrumenten oder Singen bedeuten muß.

„Selbstbestimmt": Aktives Musizieren oder szenisches Spiel ist üblicherweise weitgehend fremdbestimmt. Noten, Choreografien oder Textbücher liegen vor. Es ist ein untrügliches Zeichen von Fremdbestimmung, wenn die Frage danach, ob Musik gefällt, ankommt oder befriedigt, durch die Frage, ob sie „richtiger" und „falscher" interpretiert wird, substituiert wurde. Erst wenn Noten, Choreografien oder Textbücher als formale Rahmenbedingungen für die Entwicklung eigener Inhalte, Ideen oder Interpretationen genutzt werden, kann von Selbstbestimmung die Rede sein.

Bei der szenischen Interpretation nehmen Spielszenen wie die eben gezeigte nur einen kleinen Raum ein. Und selbst diese Szenen werden aufgrund der intensiven Einfühlung und Vorbereitung keineswegs so gespielt, wie es der Autor gewollt hat, sondern so, wie die Schüler ihre Rolle und den jeweiligen Konflikt sehen.

Spielszenen der gezeigten Art können angehalten und zurückgespult werden. Es können Alternativen diskutiert und gespielt werden. Die Original-Fassung spielt dabei keine normative Rolle. - In einer 10. Klasse kam es einmal vor, dass der Rumble bis zur vorangegangenen Szene im Drugstore „zurückgespult" wurde und die Mädchen verlangten, eine ganze neue Lösung des Konflikts zwischen Jets und Sharks zu erarbeiten. Ich zeige Ihnen einige Fotos aus dieser Spielsequenz. Sie sehen dabei, wie sich Maria auf Tonys Schoß setzt. Das provoziert Bernardo. Schrank vermittelt und es wird ein Kompromiß gefunden, indem sich Maria neben Tony auf den Stuhl setzt.


8. FAZIT (ZUSAMMENFASSUNG)

Wie verstehen Schüler, die eine szenische Interpretation durchführen, Musik?

Sie verstehen, wie Musik funktioniert: welche Haltungen sich musikalisch ausdrücken lassen, welche Wirkungen von Musik ausgehen, wie Musik Handlungsabläufe koordiniert usw.

Sie setzen sich mit den musikalischen „Lösungen" gewisser dramaturgischer Probleme auseinander, die ein Komponist getroffen hat. Nicht selten entwickeln Schüler alternative „Lösungen". Sie verstehen, wie und warum ein Komponist gewisse „Lösungen" gefunden hat - und aufgrund dieser „Lösungen" auch bekannt geworden ist.

Sie verstehen, dass und wie Musik in den Lebensalltag von Jugendlichen verwoben sein kann und ist. Sie versetzen sich in historisch und (teilweise) sozial fremde Situationen bzw. Rollen und erfahren, wie es ist anders zu sein.

Sie verstehen ansatzweise, wie Kunst funktioniert. Sie erhalten eine Vorstellung von einem geschlossenen musikalischen und dramaturgischen Handlungsablauf, der trotz seiner Ferne die ZuhörerInnen mitreißt, weil zahlreiche Ansatzpunkte zur Identifikationen bietet. Auch wenn sich die Schüler den Konfliktablauf des Musicals lieber anders wünschten, so können sie doch erfahren, dass die vorliegende Kunst-Version einen „Sinn" hatte und eine Botschaft vermittelte.

Betrachten wir abschließend unsere Thesen zum Musik-Verstehen, so können wir feststellen:

Musik-Verstehen ist von der Motivation abhängig: Alle Schüler wollen eine „gute" szenische Darstellung des Rumble vorführen. Sie haben also dasselbe Ziel. Doch bedeutet diese Szene je nach Motivlage etwas anderes. Als derart unterschiedliche Motivlagen haben wir genannt: Abgrenzung von Erwachsenen, Peergruppen-Verhalten, Ich-Identitätsfindung, Rückzug ins Private usw.

Musik-Verstehen realisiert Aneignung von Wirklichkeit: Die Schüler eignen sich im szenischen Spiel weniger die historische Wirklichkeit des Jahres 1957 in der West Side New Yorks an, auch weniger die fiktionale Bühnenwirklichkeit Leonard Bernsteins, sondern vielmehr die Wirklichkeit des Klassenzimmers, die Beziehungsstrukturen in der Schulklasse, die Gruppenbildung vor Ort, die Gewalttätigkeiten, mit denen sie in und außerhalb der Schule zu tun haben,

Der „Erfolg" der szenischen Interpretation als musikdidsktischer Methode im Rahmen eines Konzepts erfahrungsorientierten Musiklernens ist - möglicherweise - ein empirischer Beweis für die Richtigkeit meiner Thesen. Als Musiklehrerin können wir daher zu uns und den Schülern beruhigt sagen:

„Verstehe Du nur, was Du willst!"