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Kurzbeschreibung des Projekts eine welt musik lehre

Im folgenden frage ich, was zu tun ist, um das Leitbild der multikulturellen musikalischen Identität unter deutschen Verhältnissen zu verfolgen. Ich stelle das Leitbild als solches nicht (mehr) in Frage.

Die offiziellen Institutionen des Musiklebens mit noch mehr Erscheinungsformen ausländischer, internationaler und fusionierter Musik anzureichern, reicht offensichtlich nicht aus. Vor allem genügt es nicht, die Musikausbildung - im Studienbereich „Musikwissenschaft" - durch neues Wissen um die Musik der Welt aufzublähen. Der Ansatz der eine welt musik lehre besteht darin, eine Formulierung Hans Bässlers zu radikalisieren, die besagt, daß „möglichst viele Grunderfahrungen im Umgang mit Musik" im Studium angeboten werden müssten.

Die entscheidende Instanz, die das Leitziel der multikulturellen musikalischen Identität im Musikstudium blockiert, ist das Hidden Curriculum der musikalischen „Grundausbildung", sprich des Instrumental und Musiklehreunterrichts. Instrumental- und Musiklehreunterricht leisten, so die platte Erkenntnis der 60er Jahre, zweierlei: sie vermitteln einerseits Fertigkeiten, Techniken oder Skills, sie produzieren andererseits musikalische Sozialisation, Identitäts- und Persönlichkeitsbildung. Die täglichen Übungen am Klavier und in der Harmonielehre bilden die Basis der monokulturellen musikalischen Identität der Musikstudierenden. Daß Musik zu allererst aus zeitlich geordneten Tonhöhen bestehe, daß diese Tonhöhen sich über den Umweg von Intervallen zu Melodien organisieren und zu Harmonien auftürmen, daß dies alles seine metrische Ordnung hat und sich in eine Form gießt, ... das alles wird verinnerlicht und zum Maßstab der Rezeption fremder Musikkulturen.

Die eine welt musik lehre soll angesichts dieser Situation so elementar und tief wie möglich, sie soll auf der Stufe des Hidden Curriculum der auf Fertigkeiten und Skills abzielenden Musiklehre ansetzen. Sie soll also nicht primär die fundierte Beherrschung der abendländischen Musiklehre durch eine oberflächliche Kenntnis außereuropäischer Musiklehren ersetzen (wie es exemplarisch im Musikethnologie-Studium geschieht).

Die folgende Auflistung „curicularer Einheiten", aus denen eine eine welt musik lehre zusammengesetzt sein könnte, ist eine Art „Hypothese". Zu etwa der Hälfte dieser Einheiten existieren bereits Materialien und Unterrichtserfahrungen. Die andere Hälfte ist aus Gründen der Systematik hinzugefügt. Die Inhalte können hier im einzelnen nicht auf ihre Plausibilität hin diskutiert werden, sie sollen vielmehr lediglich die Heransgehensweise charakterisieren:

  • Archetypen: Klang, Rhythmus - eventuell Harmonie/Melodie, Spannung/Entspannung.Archetypische Übungen mit Klang und Rhythmus.
  • Die Menschliche Stimme: Obertonphänomen, Naturnachahmung, Skalen und Tonhöhen, Tonsysteme. Atem- und Singübungen verbunden mit Hörtraining; Theoriestudium mit Tonsystemen und dem Obertonphäomen.
  • Polyphonie-Heterophonie - komplexe artifiziellere Formen in unterschiedlichen Kulturkreisen. Elementarerfahrungen mit Ein- und Mehrstimmigkeit; Übungen im Übergangsbereich Homo- zu Polyphonie. Instrumentation, Verzierungstechniken, arabische und abendländische Musik.
  • Musikbegriff: Notation-Improvisation, schriftliche und orale Traditionen, Kompositionsbegriff. Übungen zum Umgang mit gehörter Musik: digitales und analoges Nachspielen, Improvisation; Fixieren oraler Traditionen.
  • Weltkulturkreise: Analysen exemplarischer Herstellungsweisen von Musik („Handwerkslehren"). Hier werden einzelne Musikstücke nach ihrer „Machart" analysiert.
  • Transkulturelle Prozesse: Weltmusik, Fusionen, Wanderung von Kulturen. Auseinandersetzung mit ausgewählten „Fusions-Stilen" und Weltmusik-Projekten. Klassische interkulturelle Wanderbewegungen und Aneignungsprozesse.
  • Musikinstrumente der Welt. Grundprinzipien einer universellen Instrumentenkunde. Kultureller Umgang mit akustischen Materialkonstanten.

 

Dieser Katalog ist ersichtlich heterogen. Er beginnt mit Elementar-Erfahrungen im Sinne eines veränderten Klang- und Rhythmusbewußtseins. Die entsprechenden Konzepte entstammen im wesentlichen der Musiktherapie, workshop-Szene und dem Angebot von Institutionen wie dem „Freien Musikzentrum München". Er thematisiert die Stimme als Klang- und Tonhöhenerzeuger als Einstieg in Melodie und Tonsystem. Er nähert sich sodann der „analogen" Art Musik zu machen, der Variation, Umspielung und Improvisation. Er schreitet erst dann zur Digitalisierung, der Notation und Theorie im engeren Sinne weiter. Die letzten drei Einheiten sind inhaltlich gesehen „Materialschlachten", bei denen es vor allem auf die Herausarbeitung von Grundprinzipien ankommt.

Leitbilder haben utopische Züge. So liegt eine eine welt musik lehre als Umsetzung curricularer Bausteine wie den hier genannten weit im Reich der Utopie. Der Alltag sollte aber, wie immer er mit diesen Bausteinen verfahren wird, die Utopie nie aus dem Auge verlieren.

 

 

Fragen und Probleme

1. Frage: Wie tragfähig ist das Konzepot der multikulturellen musikalischen Identität? Wer von „multi" spricht, muß eine Vorstellung von „mono" haben. Jede Integration oder Verschmelzung setzt voraus, daß es Individuation und Abgrenzung gibt.

Im Falle der Musikausbildung ist die Frage glücklicherweise einfacher. Es handelt sich ja zunächst lediglich darum, breitere musikalische Basiserfahrungen als diejenigen zu machen, die durch das Hidden Curriculum der herkömmlichen Musiklehre vermittel werden. Die „Materialschlachten" sollen Interesse wecken, Selbstverständlichkeiten aufbrechen und Flexibilität des Geistes erzeugen.

2. Frage: Trifft das Konzept bezüglich der sehr umstrittenen und heiklen Frage musikalischer Universalien nicht eine gefährliche Grundsatzentscheidung?

Im Falle der archetypischen Erfahrungen von Klang und Rhythmus sowie im Falle der menschlichen Stimme als Ausgangspunkt aller Musik als Kultur bin ich in der Tat ein „Universalist". Ich habe sehr bewußtseinserweiternde Erfahrungen mit entsprechenden Konzeptionen gemacht. Die Angst vor „Eurozentrismus" halte ich an dieser Stelle als extrem unbegründet. Nimmt man alle curricularen Bausteine zusammen, so überwiegen die Elemente, die Musikkulturen „relativierend" angehen. Besonders wichtig erscheint mir aber, daß jenseits des „Universalien"-Streites in der eine welt musik lehre auch die transkulturellen Prozesse, die sich tatsächlich derzeit abspielen, explizit thematisiert und Ernst genommen werden.

3. Frage: Angenommen, die eine welt musik lehre ist zeitlich „machbar", de-qualifiziert sie nicht die MusikstudentInnen, wenn sie den herkömmlichen Musiklehreunterricht ersetzt?

Nur dort, wo ohnedies nur ein phantomhafter Musiklehreunterricht stattfindet, sollte die eine welt musik lehre den herkömmlichen Musiklehreunterricht ersatzlos ersetzen. Solche Phantomerscheinungen liegen vor in Grundkursen der Gymnasialen Oberstufe und in Studiengängen, die es beispielsweise in Niedersachsen unter der Bezeichnung „Kurzstudium" (mit 20 SWS Umfang) gibt. In allen übrigen Ausbildungsgängen kann die eine welt musik lehre den herkömmlichen Musiklehreunterricht „abkürzen" und ergänzen. Mit Sicherheit ist die eine welt musik lehre brauchbarer als Partiturspiel, Generalbaß, Kontrapunkt. Andererseits sind musiktheoretische Fertigkeiten mit dem Ziel, gebunden improvisieren, Poptitel von Platte raushören und einfache außereuropäische Musik für Schüler arrangieren zu können, sogar für einen Erfolg der eine welt musik lehre fast unabdingbar.

4. Frage: Warum verzichtet das Konzept auf „exemplarisches Lernen" ganz im Gegensatz zu allen aktuellen Einsichten der Hochschulmusikpädagogik?

Die hier vorgelegten curricularen Bausteien der eine welt musik lehre stellen ein utopisches Gesamtkonzept dar. In Wirklichkeit wird immer ausgewählt und exemplarisch gearbeitet werden. Ein Unterricht, der nur ausschnittsweise vorgeht und einzelne Beispiele bearbeitet, ist allerdings nur dann „exemplarisch", wenn es für die Ausschnitte und Beispiele einen konzeptionellen Gesamtrahmen gibt. Ansonsten wüßte die Lehrerin nichts auf die Frage zu antworten: „Exemplarisch - wofür denn?"

Frage 5: Gibt es irgendwo auf der Welt ähnliche Konzepte, die erfolgreich laufen?

Ich vermute: nein. In den USA habe ich auch an den „multikulturellsten" Hochschulen wie der State University of Hawaii at Manoa in Honolulu oder der Berklee School of Music in Boston noch wenig Vergleichbares gesehen. In Honolulu überwältigt zwar der multikulturelle „Supermarkt", in Boston die Vielfalt der am kommerziellen Musikbetrieb orientierten Teilstudiengänge. Eine einzelne Person kann sich eine ganze Menge an multikultureller Identität dort zusammenbauen. Bewußt curricular gehandhabte Konzepte gibt es nicht. Nach genauerer Diskussion mit Experten der US-"National Standards for Music Education" habe ich ebenfalls den Eindruck gehabt, daß den formlierten Idealen noch keine überzeugende Praxis gefolgt ist.

Frage 6: Wie kann jemand, der eigentlich ganz zufrieden ist mit seiner „kulturellen Identität", motiviert werden, an so einem Konzept mitzuarbeiten?

„Zufriedenheit" heißt nicht, daß es noch viel Schönes und Wertvolles auf dieser Welt zu erleben gibt. Das kann arabische Popmusik oder deutscher Türk-Rap sein. Das kann französischer Rai oder New Yorker Klezmer sein. Oft geht ein Kick auch von einem Fest aus, das wir zufälligerweise miterleben und dessen Ablauf eine große Sehnsucht in uns aufkommen läßt. Das kann ein zufällig eingefangener Nordafrikanischer Sender im Südspanien-Urlaub oder die Entdeckung einer in Belgien ausgestrahlten iranisch-kurdischen Fernsehwelle sein. Das kann sogar Sürpriz oder Cartel oder Aziza-A oder der Arien schmetternde Gastarbeiter in der Baugrube sein.

Die motivationalen Impulse kommen unerwartet und unvorhergesehen. Sie kommen nicht aus einem schlechten Gewissen, aus Diensteifer oder aus Nächstenliebe. Freilich können Störungen unserer Zufriedenheit durchaus sensibel für solche Impulse machen. Und solche Störungen gibt es im Musikunterricht ja fast täglich.